by Filifjonka | Mar 20, 2016
Jede Liebesgeschichte ist eine potenzielle Leidensgeschichte. Wenn nicht gleich, dann später. Wenn nicht für den einen, dann für den anderen. Manchmal auch für beide.
Julian Barnes, Lebensstufen (orig. Levels of Life), Kiepenheuer & Witsch, 2013
by Filifjonka | Mar 19, 2016
Wenn das Herz bricht, dachte er, dann reisst es wie Holz durch das ganze Brett. In seinen ersten Tagen im Sägewerk hatte er gesehen, wie Gustaf Olsson einen massiven Holzklotz nahm, einen Keil hineintrieb und den Keil leicht drehte. Der Klotz brach im Kern von oben bis unten. Mehr braucht man über das Herz nicht zu wissen: nur wo der Kern lag. Dann konnte man es mit einer Drehung, einer Geste, einem Wort zerstören.
Julian Barnes, Die Geschichte von Mats Israelson, in: Der Zitronentisch, Kiepenheuer & Witsch, 2005
by Filifjonka | Mar 19, 2016
Er sah sie an. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er wollte ihr keine Fragen stellen, damit sie ihm keine Lügen erzählte. Oder damit sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Er hatte vor beidem gleichermassen Angst.
Julian Barnes, Die Geschichte von Mats Israelson, in: Der Zitronentisch, Kiepenheuer & Witsch, 2005
by Filifjonka | Mar 17, 2016
Ein anderer Freund starb plötzlich, entsetzlich, am Gepäckband eines ausländischen Flughafens. Seine Frau war einen Kofferkuli holen gegangen; als sie zurückkam, stand eine Menschentraube um etwas herum. Vielleicht war ein Koffer aufgeplatzt. Aber nein, ihr Mann war aufgeplatzt und bereits tot. Ein, zwei Jahre später, als meine Frau starb, schrieb sie mir: »Der Punkt ist – die Natur ist da sehr genau. Es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient, darum genießt man den Schmerz gewissermaßen, glaube ich. Wenn es einem nichts ausmachte, würde es einem nichts ausmachen.
Julian Barnes, Lebensstufen (orig. Levels of Life), Kiepenheuer & Witsch, 2013
by Filifjonka | Mar 15, 2016
Ich ging in ein Londoner Kino und sah mir eine Direkt-Übertragung von Glucks Orpheus und Eurydike aus New York an. Vorher machte ich meine Hausaufgaben und hörte mir das Stück mit dem Libretto in der Hand an. Und ich dachte: Das kann überhaupt nicht funktionieren. Einem Mann stirbt die Frau, und seine Klagen rühren die Götter, sodass sie ihm schliesslich erlauben, in die Unterwelt hinabzusteigen, seine Frau zu suchen und zurückzuholen. Allerdings gibt es eine Bedingung: Er darf sie nicht ansehen, bis beide auf die Erde zurückgekehrt sind, sonst ist sie für ihn auf ewig verloren. Während er sie aus der Unterwelt hinausführt, bringt die Frau ihn dazu, sich nach ihr umzusehen; und dann stirbt sie; und dann klagt er noch anrührender um sie und zieht sein Schwert, um Selbstmord zu begehen; und dann erweckt der Gott der Liebe, durch diese Demonstration der Gattenliebe gnädig gestimmt, Eurydike wieder zum Leben. Also wirklich, wer soll denn das glauben? Mein Problem war nicht das Auftreten oder das Verhalten der Götter – das konnte ich alles leicht hinnehmen; mein Problem war die Gewissheit, dass sich niemand, der einigermassen bei Sinnen ist, umdrehen und Eurydike ansehen würde, weil er sich über die Folgen im Klaren ist. Und als wäre das noch nicht genug, sollte die Rolle des Orpheus, ursprünglich ein Kastrat oder Kontratenor, aber heutzutage eine Hosenrolle, in dieser Inszenierung von einer beleibten Altistin gespielt werden. Aber ich hatte Orpheus, diese Oper, die geradezu perfekt auf die Leidtragenden zugeschnitten ist, ziemlich unterschätzt, und so tat die Kunst in diesem Kino wieder einmal ihr Wunderwerk. Natürlich musste Orpheus sich nach der flehenden Eurydike umdrehen – wie konnte es anders sein? Denn obwohl »niemand, der noch bei Sinnen ist« das tun würde, ist er vor Liebe und Leid und Hoffnung völlig von Sinnen. Man verliert die ganze Welt um eines Blickes willen? Aber klar doch. Dazu ist die Welt doch da: damit man sie unter den richtigen Umständen verliert. Ist es überhaupt denkbar, dass man sich an sein Gelübde halt, wenn man Eurydikes Stimme hinter sich hört?
Julian Barnes, Lebensstufen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015
Genau so ist es. Nur Buchhalter und Gartenzwerge können etwas anderes glauben. Nicht nur in der Kunst. Wie merkwürdig ist doch, was wir alles vom Leben “denken”, wie wir es “erfassen” oder “verstehen”, obwohl dem unseren Erfahrungen unmittelbar und fast vollständig widersprechen.
by Filifjonka | Dec 27, 2015
Es ist gar nicht so einfach, etwas zu tun, das nicht in Tätigkeit oder Beruf ausartet. Tätigkeit oder Beruf sind die Klippen des heutigen Geschlechts. Sie machen den Menschen passiv, sie verweben ihn in die große Leinewand der bürgerlichen Gesellschaft, bis er zu vergessen anfängt, daß er der Mittelpunkt der Welt ist.
Statt zu bedenken, daß es nur auf ihn ankommt, erfindet er sich die isolationshemmende, gesellschaftsbildende und religionabtötende Vorstellung, es komme auf den Chef an, den Vorgesetzten oder die Schwiegermutter oder den Minister oder sonst irgendeine außenstehende Persönlichkeit. Das ist grundfalsch. Das verdirbt unsere Zeit. Das entgöttert uns und macht uns zur Kreatur, da wir vordem selber uns schufen, selber uns bildeten. Doch genug!
Unsere ganze Zivilisation ist für den Lebenden gemacht, und über den Lebenden hinaus für die Kommenden. Von der Natur haben die Menschen diese Ungerechtigkeit gegen die Lebenden gelernt, von der Natur, die mit Leichnamen düngt. Aber für Sterbende ist kein Raum unter Menschen. Die Toten haben ihren Platz, wo man sie rasch verscharrt.
Aber dem Sterbenden ist keine Funktion gelassen.
Hermann Kesten, Vergebliche Flucht
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