Huren und Literatur

Es gibt in der modernen Literatur kaum einen Fall, in dem ein verzweifelter, ein unglücklicher Mensch, ein Mörder, Liebhaber, Bankdefraudant oder sonst einer, der kurzweg entschlossen ist, das Leben zu geniessen, nicht zu einer Dirne gegangen wäre. In Dramen, wo der Schaulust des Theaterpublikums Rechnung getragen werden muss, ist es gewöhnlich ein ganzes Bordell, das vor die Rampe tritt, in Romanen genügt schon eine einzeln auftretende Dirne. Es ist einem belesenen Menschen heutzutage so selbstverständlich, auf dem dramatischen Leidensweg eines jungen Menschen das Freudenhaus zu finden, dass Garrett sich wunderte, warum er so lange gebraucht hatte, um dieses Allheilmittel derjenigen Menschen zu finden, denen die Wonnen des Bauches noch nicht das letzte Erinnern geraubt haben an ihre niedergetretene Seele.

H. Kesten, Vergebliche Flucht,  1926

Nationalität ist eine Erfindung

Die nachfolgende Passage aus H. Kestens Erzählung “Oberst Kock” stammt aus dem Jahr 1946, sie bringt aber auf den Punkt, was heute noch genau so gilt:

“Sind Sie nicht Pole” fragte ich.

“Darauf müsste ich Ihnen mit der Geschichte der polnischen Republik antworten. Die Polizei fragte mich: ‘Sind Sie in Polen geboren?’

‘Ich bin älter als die polnische Republik.’

‘Wo sind Sie geboren …’

‘In Odessa …’

‘Also sind Sie Russe?’

‘Meine Mutter war Schweizerin.’

‘Und Ihr Vater?’

‘Unbekannt.’

‘Also sind Sie Schweizer?’

‘Meine Mutter hat einen österreichischen Universitätsprofessor geheiratet, der mich adoptiert hat.’

‘Also sind Sie Österreicher?’

‘Österreich hat der Hitler annektiert.’

‘Also sind Sie Deutscher?’

‘Als Oberst der polnischen Armee?’

‘Dann sind Sie doch Pole?’

‘Ich habe gegen die Zusammensetzung der polnischen Regierung im Exil protestiert, nun empfängt mich mein Konsul nicht mehr. Ich bin nicht in Polen geboren. Wie soll ich im Exil und ohne Papiere beweisen, dass mich mein polnischer Vater adoptiert hat?’

‘Mit was für Papieren kamen Sie ins Land?’

‘Mit einem französischen Ausweis.’

‘Sind Sie Franzose?’

‘Keineswegs.’

‘Also staatenlos.’

‘Ich bin Weltbürger!’ gestand ich.

‘Keine Flausen!’ schrie man. ‘Sie machen sich verdächtig. Haben Sie noch Verwandte in Europa?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ein ordentlicher Mensch kennt seine Familie! Ihre Mutter lebt noch?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ihrer Mutter letzter Wohnort?’

‘Sie hatte keinen.’

‘Eine Landstreicherin?’

‘Im Gegenteil. Sie war eingesperrt. In einem Konzentrationslager bei Warschau.’

‘Weshalb?’

‘Sie soll in der Strassenbahn geäussert haben, die Deutschen seien auch Menschen.’

‘Aha. Also deutschfreundlich.’

‘Im Gegenteil. Die Nazis bestraften die Verleumdung.’

‘Wie?’

‘Jawohl.’

‘Ach so. Das heisst? Schrieb Ihnen Ihre Mutter nie?’

‘Nein. Aber der Schweizer Konsul in Ankara gab mir Nachricht von ihr.’

‘In Ankara?’

‘In der Türkei. Er ist ein Vetter meiner Mutter. Sein Schwager ist Major in einem sächsischen Regiment, das in dem französischen Badeort Biarritz steht, an der spanischen Grenze. Der Major hat eine Nicht in Berlin. Die Nichte hat eine Freundin. Die Freundin hat ein Verhältnis mit einem Gestapobeamten, der in Warschau Dienst tut. So hatte ich auf dem denkbar schnellsten Wege Nachricht von meiner Mutter, in knapp vier Monaten, natürlich telegraphisch.’

Verdächtiges gewöhnlichen Leben

Die Entlassung zog sich hin. Die Vernehmungen häuften sich. Ich hatte geglaubt, das gewöhnliche Leben eines modernen Menschen hinter mir zu haben.

Die Polizei bewies mir spielend das Gegenteil. Im Laufe der Untersuchung verlor ich meinen Namen, meine Nationalität, meinen Charakter, meine Ehre, mein Selbstgefühl, meinen Mut und meine Identität.

… Verdienste, auf die ich stolz war, sahen wie Verfehlungen aus. Worauf ich mich stützte, das mache mich verdächtig. So verdächtig wird jedes gewöhnliche Leben, wenn man es prüft.

Hermann Kesten,  Oberst Kock, 1946

Tatsächlich. Darin liegt das eigentliche Problem. Jedes Leben wird verdächtig, wenn es genau geprüft wird. In jedem Leben finden sich Fehler und dunkle Geheimnisse. Genau deshalb sollten Zufallsfunde nicht verwertbar sein in einem Strafprozess. Würde man nämlich unser aller Leben einer genauen Prüfung unterziehen, so sässen wir wohl alle im Gefängnis.

Unlicht

Das eigentlich Teuflische nun äussert sich nicht etwa in der primitiven Vorstellung, dass für die Dauer seiner – gewiss vorübergehenden – Herrschaft die Bösen stärker sind als die Guten. Vielmehr wäre, wie Sie wissen, solch ein Zustand ein natürlicher, will sagen: ein gewöhnlicher. Auch das Böse ist nämlich ein Teil des Guten: “Nichts findet man in der Welt” – wie der heilige Thomas von Aquino sagt – “was vollständig übel ist.” Aber die Zeiten der Hölle erkennt man nicht an der Herrschaft des schlechtweg Bösen, sondern an unserer Ratlosigkeit, zu sehen, was eigentlich Gut und was eigentlich Böse ist. Es ist nicht Nacht, und es ist auch nicht Tag in der Welt. Es ist gleichsam Sonnenfinsternis. […] weder Licht noch Finsternis, sondern eher eine Art Unlicht […]

Joseph Roth: Glauben und Fortschritt, Vortrag aus dem Jahre 1936

So ist es, darkness visible (Milton). Nicht seine Herrschaft, der Verlust der Unterscheidungen ist der eigentliche Triumph des Bösen.

Vernunft & Liebe

Spricht der heilige Trinker Joseph Roth 1936 in seinem Vortrag “Glauben und Fortschritt”:

Stellen wir die Vernunft in den Dienst dessen, wozu sie uns gegeben ist, nämlich in den Dienst der Liebe.

Das klingt nach Glaube, aber es ist Verzweiflung, denn dazu wäre die Vernunft tatsächlich da, nicht wahr?

Ostende und die Haut

Ist es nicht phantastisch? Egal wie viele Sonnenuntergänge man gesehen hat, es wird nicht langweilig. Egal wie oft man auch am Meer war, es bleibt überwältigend. Und egal wie viel man gelesen hat, immer kann man Entdeckungen machen. Kaum bin ich mit den beiden Herrren am Strand zu Ende, fällt mir ein anderes kleines Buch in die Hände, das ich vor einiger Zeit gekauft hatte: Volker Weidermann, Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft, Kiepenheuer & Witsch 2014. Weidermann (*1969) kenne ich von seinem Buch der verbrannten Bücher (Kiepenheuer & Witsch 2008), einer Art Lexikon der von den Nazis verfolgten Autoren. Nicht gelesen habe ich dagegen seine Literaturgeschichte Lichtjahre, die erhebliche Kontroversen ausgelöst hat.

Ostende erzählt, wie der Untertitel bereits andeutet, die Begegnung zweier Freunde im Sommer 1936 in Ostende. Es handelt sich um Stefan Zweig (1881-1942) und Joseph Roth (1894-1939). Keine gute Zeit für kritische Geister. Keine gute Zeit für Juden, und beide Freunde sind Juden. Natürlich tauchen neben den beiden noch viele andere prominente Exilautoren auf, etwa Egon Erwin Kisch (1885-1948) oder Hermann Kesten (1900-1996) und insbesondere auch Roths spätere Geliebte, Irmgard Keun (1905-1982), eine der autnomsten und eindrücklichsten Frauen des 20. Jahrhundert überhaupt.

Eine kleine Geschichte will ich wiedergeben zu Roth, damit Du siehst, warum ich ihn liebe. Roth spricht mit seinem Freund Soma Morgenstern (1890-1976) über das Alter:

Wie er sich selbst als Greis sehe, wollte er von Morgenstern wissen. Der hatte darüber noch nicht nachgedacht. Die Männer seiner Familie wurden ohnehin nicht alt. Doch Roth hatte oft und viel darüber nachgedacht. Er würde sehr alt werden, da war er sich sicher. Er erklärte dem verwunderten Freund: “Und immer sehe ich mich so: Ich bin ein alter, magerer Greis. Ich habe ein langes schwarzes Gewand an mit langen Ärmeln, die meine Hände fast ganz bedecken. Es ist Herbst, und ich gehe in einem Garten spazieren und denke mir listige Intrigen aus gegen meine Feinde. Gegen meine Feinde und auch gegen meine Freunde.”

Ist das nicht schön? Die zweite Geschichte betrifft Roth und seine Begegnung mit Irmgard Keun.

Sie geben sich die Hand, freundlich, Irmgard Keun sieht seine zarten, weissen Hände, die aus den schwarzen Ärmeln ragen, sie sieht den blonden, fransigen Schnurrbart, Asche auf seinem Rock. “Meine Haut hat sofort ‘Ja’ gesagt”, schreibt sie später. … 

Sie sagt später, sie habe nie zuvor und nie danach einen Mann mit so grosser sexueller Anziehungskraft kennengelernt wie Joseph Roth. An diesem Abend. Im Cafe Flore. Am liebsten würde sie sofort mit ihm gehen, egal wohin. Nur weiter zuhören und erzählen. Bei ihm sein. Und trinken.

Ist das nicht präzise? Und ehrlich. Wir haben hier ja bereits über die Haut gesprochen (etwa hier oder hier). Und Keun kennt das offenbar. Tatsächlich gibt es kein besseres, ja kein anderes Kriterium als das ‘Ja’ der Haut.