Das Einmalige

Selbst an unvermuteter Stelle (Heimito von Doderer ist nicht meine primäre Referenz) findet man Belege für das (meist negierte oder jedenfalls immunisierte) Offensichtliche:

Jedweder kleinste Hergang, wenn man ihn betrachtet, wird befremdlich und steht in neuem Licht, hält man seine Einmaligkeit sich vor Augen — daß nichts wiederkommt, diese Bedeutung kann auch das Bedeutungsloseste für sich in Anspruch nehmen, ebenso wie dies dem wirklich bedeutenden Vorgang erst seinen schmerzhaft-dunklen Hintergrund ganz verleiht — aber 
dies führt schon zu weit; gleichwohl, denke: deine Hand auf dem Wirtshaustisch, dort und dort, vor drei Jahren; oder dein Fuß vorgestern, auf dem Waldpfad. —

 H. v. Doderer: Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel. Variation V, zu finden in: Doderer, Die Erzählungen, 4. Auflage, München: Beck 2006.

Versprechen, Verträge und Regeln

Schreibt Salvatore Satta (1902-1975), ein italienischer Schriftsteller, der mit seinem ersten Roman scheiterte und der daraufhin Jurist wurde und Professor für Zivilprozessrecht, in einem Essay über das Mysterium des Prozesses (S. Satta, Il Mistero del Processo, Piccola Biblioteca Einaudi 324, 2a edizione, Milano: Adelphi 2013):

Queste promesse che gli uomini, paurosi l’uno dell’altro, si scambiano in una carta più o meno solenne sono come le promesse di eterna fedeltà nell’amore: valgono finché valgono, rebus sic stantibus, finché la natura, la passione, la follia non prendono il sopravvento.

bzw. für die des Italienischen nicht Mächtigen:

Diese Versprechen, die sich die Menschen, sich voreinander ängstigend, auf einem Stück Papier mehr oder weniger feierlich geben, sind wie die Versprechen ewiger Treue in der Liebe: Sie gelten, solange sie gelten, rebus sic stantibus, bis die Natur, die Leidenschaft, der Wahnsinn die Oberhand gewinnen.

Schön, nicht? Satta, übrigens, hat auch als Professor weitergeschrieben. Ich meine: richtige Bücher. Aber im Geheimen. Und als er starb, fand sich in seinem Nachlass der Roman “Il Giorno del Giudizio” (auf deutsch erhältlich: Der Tag des Gerichts). Ein Buch, das einen umhaut. Und die Welt klagte. Natürlich. Wie immer. Wir haben ein Genie verloren! (stimmt). Und wussten es nicht! (stimmt nicht).

Feuer aller Feuer

Wenn wir schon beim Feuer sind: Die schönste Erzählung zu Liebe, Sehnsucht und Feuer, ist wohl Das Feuer aller Feuer von Julio Cortàzar (1914-1984), einem argentischen Schriftsteller, der viel experimentiert hat und hier zwei Geschichten derart ineinander webt, dass es einen schlicht umhaut. Lass Dich nicht verwirren. Lies sie zu Ende!

Der Volltext der Erzählung findet sich hier.

Ubique naufragium

Wir haben bereits Fred Uhlman und seine Feststellung zitiert:

Sub specie aeternitatis we all, without exception, are failures.

Eine ganz ähnliche Feststellung findet sich bei Petronius Arbiter 2000 Jahre zuvor († 66, Selbstmord) in seinem Satyricon:

Si bene calculum ponas, ubique naufragium est.

Sinngemäss also: Wenn Du genau hinschaust, ist überall Schiffbruch. Der lateinische Volltext des Satyricon findet sich hier, lat. Text und auszugweise deutsche Übersetzung (allerdings ohne die hier interessierende Passage, die aus CXV stammt) hier.

wer wird mich halten

Ich fuhr nach schwerem Tag
über Land durchs Paradies
mich auszuruh’n.
Der Mond stand tief,
die Engel schliefen,
die Erde aber roch nach Liebe und nach Ewigkeit
als der Himmel mir gefror.

Wer wird mich halten, wenn ich falle,
in dieser milden Mainacht,
wer meine Augen schliessen, wenn das Licht versinkt
im Geruch von frisch geschnitt’nem Gras,
wenn sanft die Nacht sich auf mein Blut legt, es durchdringt,
das Blut, das ich verrate mannigfach,
das sich verbissen wehrt und doch ermüdet
nach und nach.

Wer wird mich schützen jetzt,
vor Dir,
wer wird ihn schützen jetzt,
vor mir,
wer wird mich schützen
vor mir.

Ein später Jogger rennt die Strasse lang.
Eine Katze auf Mäusejagd wartet vergeblich auf ihr Opfer.

Der Schmerz

Der Schmerz fällt uns an, Menschen, Geschwister,
von hinten, von seitwärts,
und betäubt uns in den Kinos,
nagelt uns an die Grammophone,
lässt uns los in den Betten, fällt lotrecht
auf unsere Fahrscheine, auf unsre Briefe;
und es ist sehr folgenschwer, zu leiden, mag einer auch beten …
Ferner kommen infolge des Schmerzes
manche zur Welt, andre wachsen auf, andere sterben,
und andere kommen zur Welt und sterben nicht, andre
sterben, ohne zur Welt gekommen zu sein, und andre
kommen weder zur Welt noch sterben sie. (Das sind die meisten.)

aus: César Vallejo: Die neun Ungeheuer, in: Gedichte span./dt., BS 110, Suhrkamp: Frankfurt 1963

Ach, warum liest niemand mehr Gedichte, warum nur.