Wilhelm von Humboldt

Tatsache ist jedenfalls, dass Wilhelm [von Humboldt (1767-1835)], wenn man seine Briefe genau liest, seltsam sadistische Züge offenbart. Ganz klar gesagt: Er liebte es, wenn Leute sich ihm unterwarfen, auch und besonders Frauen. Diesen Zug wohlanständiger Grausamkeit habe ich versucht, im Buch [Die Vermessung der Welt] unauffällig zu verewigen. Ich denke, eine sadistische Grundveranlagung ist in jedem ausser einem einzigen Fall Privatsache und nicht von grösserem Interesse.

Mmh.

Oder?

Was weiss denn ich.

Na, nun fragen Sie mich schon, welches der eine Fall ist!

Bitte sehr. Welches ist der eine Fall, in dem das keine Privatsache mehr ist?

Der Erfinder des deutschen Schulsystems.

Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen, 2. Vorlesung, in: Lob. Über Literatur, Reinbeck b. Hamburg 2010, 167 f.

Nietzsche zur Gnade

Nietzsche wurde eben erwähnt. Hier der Text von Nietzsche im Original. Zur Genealogie der Moral, 1887, Zweite Abhandlung, Abschnitt 10. Der Text des gesamten Buches findet sich hier.

Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Masse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr “friedlos gelegt” und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermassen zügellos an ihm auslassen—vielmehr wird von nun an der Übeltäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. Der Kompromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übeltat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisieren und einer weiteren oder gar allgemeinen Beteiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Masse, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren—das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. Der “Gläubiger” ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Mass seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt—ihren Schädiger straflos zu lassen. “Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an?” dürfte sie dann sprechen. “Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!” Die Gerechtigkeit, welche damit anhob “alles ist abzahlbar, alles muss abgezahlt werden,” endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen—sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt—Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein jenseits des Rechts.

Keine Hilfe

Keiner konnte einem helfen. Kein Buch, kein Lehrer. Alles Entscheidende musste man aus eigener Kraft lernen, und gelang es nicht, hatte man sein Leben verfehlt.

Daniel Kehlmann: F (Reinbeck b. Hamburg 2013, 21)

Das schreckliche Ende

“In dieser Geschichte ist die Auflösung wirklich die, dass es keine versteckte Auflösung gibt. Keine Erklärung und keinen Sinn. Genau darum geht es.”

“Aber genau das stimmt doch nicht! Oder vielmehr stimmt es nur, wenn man es so erzählt, dass es stimmt. Jedes Dasein, vom Ende her gesehen, besteht aus Schrecken. Jedes Leben wird zur Katastrophe, wenn man es auf so eine Art zusammenfasst, wie du es machst.”

Daniel Kehlmann: F (Reinbeck b. Hamburg 2013, 289)

Die Welt lesen

Daniel Kehlmann: F (Reinbeck b. Hamburg 2013, 294)

Zwei Autos fahren vorbei, ein einzelnes folgt, dann wieder zwei – gleichmässige Intervalle, es könnten Morsezeichen sein. Was, wenn das Universum lesbar wäre? Vielleicht steckt ja das hinter der erschreckenden Schönheit der Dinge: Wir bemerken, dass etwas mit uns spricht. Wir kennen die Sprache. Und doch verstehen wir kein Wort.

Tatsächlich. Was aber unterscheidet diese Situation von derjenigen, in welcher ein anderer mit uns spricht? Ich meine, ein anderer Mensch, nicht Gott. Und zwar in unserer Sprache mit uns spricht? Verhält es sich, wenn wir ehrlich sind, nicht ebenso (und zwar genau so)?

Buchtip: Zu Unrecht verurteilt

Wir haben hier bereits hingewiesen auf das hübsche Buch “Für den Angeklagten”, (Hamburg 1960; orig. Au band de la défense, Paris 1959) von René Florist (1902-1975, einem der einst profiliertesten französischen Strafverteidiger).

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Auch ein anderes Buch von ihm, “Zu Unrecht verurteilt” (Hamburg 1969; orig. “Les erreurs judiciaires”, Paris 1968) ist nur vorbehaltlos zu empfehlen.

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Intelligente Überlegungen, unterhaltsame Anekdoten, eindrückliche Fälle. Literarisch gebildet, emphatisch und engagiert. Was will man mehr?