Spiegel der Wirklichkeit

Der Spiegel, von dem Naive meinen, er spiegele die Wahrheit wieder, als gäbe es nicht verschiedene Spiegel für Verliebte und für Selbstmörder, dieser unberechenbare, dem Spiel wechselnder Launen ausgelieferte Gegenstand …

Zbigniew Herbert: Der Spiegel, in: Der gordische Knoten, Berlin 2001, 21

Gewalt gegen Sachen und Menschen

Es ist wahr, Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen sind zweierlei, aber letztendlich gehören auch die Gegenstände zu uns, sind unsere Nächsten, die der Obhut bedürfen, denn sie haben keine Sprache und können sich nicht zur Wehr setzen. Im übrigen weiss man nicht genau, wo die Eskalation des Verbrechens beginnt. Inschriften an unschuldigen Mauern, eingeschlagene schwache Fenster, geschändete Friedhöfe, in Brand gesetzte Kirchen… Der Moment des Umschlags, der die unheilvollen Elemente der Gewalt freisetzt, ist meist nicht genau zu fassen.

Daher besteht durchaus eine Analogie zwischen dem unverantwortlichen Streich Alexanders [der den gordischen Knoten zerschlug, statt ihn zu entwirren, Anm. d. Hrsg.] und dem, was später am sonnigen Strand Siziliens geschah, als ein bewaffneter römischer Söldner den Körper des Archimedes zerhieb, der im Sand seine geometrischen Muster und Figuren zeichnete, die dem Einfaltspinsel unverständlich waren.

Und auch später, über Jahrhunderte bis in unsere Zeit, lodernde Feuerstösse – Fackeln der Finsternis –, Stösse von Papyrusrollen und auf Kalbshaut verewigten Manuskripten, lodernde Bücherstösse, zu denen man – wie nebenhin, quasi als Zutat – die allzu widerspenstigen Autoren hinzuwarf.

Zbigniew Herbert: Der gordische Knoten, Berlin 2001, 11 f.

Die Dinge herauszuführen

Um die Dinge aus ihrem königlichen Schweigen herauszuführen bedarf es der List oder des Mords. Das Klopfen des Wüstlings zerbricht den zugefrorenen See der Tür, das fallengelassene Gläschen schreit auf dem Steinboden kurz wie ein gläserner Vogel auf, und das angezündete Haus redet mit der vielsagenden Zunge des Feuers, der Zunge des atemlosen Erzählers, davon, wovon das Bett, die Koffer, die Vorhänge schwiegen.

Z. Herbert: In: Herr Cogito, Frankfurt 1995, 98

Das Geheimnis verscheuchen

Gnomische Verse, besonders solche, von denen man annehmen kann, dass es sich um esoterische Texte handelt, sollte man eher erklären als wörtlich übersetzen, d.h. man sollte sich ihnen vorsichtig, auf Zehenspitzen über die Bedeutungsstufen nähern, weil Örtlichkeit den Sinn verflacht und das Geheimnis verscheucht.

Z. Herbert: Stilleben mit Kandare, Frankfurt 1996, 139

Aber von welchem Text müsste man das nicht sagen?

Mörderische Abstraktionen

Wie gut, dass die mörderischen Abstraktionen nicht bis zur Neige alles Blut der Wirklichkeit ausgetrunken haben.

Z. Herbert: Stilleben mit Kandare, Frankfurt 1996, 134

wir werden die luft erschüttern

Du schaust auf mein hände
und sagst – sie sind schwach wie blumen

du schaust auf meinen mund
zu klein um zu sagen welt

– schaukeln wir lieber auf dem stengel der augenblicke
trinken wind
und sehen zu wie uns die augen versinken
der duft des welkens ist der allerschönste
und die gestalt der ruinen betäubt

wenn die quelle der sterne verdorrt
werden wir den nächten leuchten

wenn der wind versteinern sollte
werden wir die luft erschüttern

aus: Zbigniew Herbert: Inschrift