by Filifjonka | Jul 21, 2013
Wir hatten bemerkt, dass Floriot viele Beispiele für die Bedeutung des Kontextes einer Aussage bringe. Eines sei nachfolgend wiedergegeben (René Floriot, Für den Angeklagten, Hamburg 1960, 98 f., orig. Au banc de la défense, Paris 1959):
Vor über zwanzig Jahren verteidigte ich einen Kaufmann, der sich in einem Restaurant mit einem anderen Gast gestritten und ihm dabei einen wuchtigen Faustschlag versetzt hatte. Der Mann war hintenübergekippt, hatte sich beim Fall einen Schädelbruch zugezogen und war einige Stunden darauf gestorben. Er hinterliess eine Witwe mit vier minderjährigen Kindern. Die Geschworenen waren erschüttert über die Folgen des unglücklichen Schlages und schienen zu harter Strafe entschlossen.
Dr. Paul nahm die Obduktion der Leiche vor. In seinem Gutachten führte er aus, dass sich bei der Untersuchung der Leber ein chronischer Alkoholismus herausgestellt habe. Im Gerichtssaal vergisst er dieses Detail. Natürlich frage ich danach:
“Herr Doktor, Sie haben die Leber des Opfers untersucht. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?”
“Es handelt sich unverkennbar um die Leber eines Alkoholikers.”
Die Haltung der Geschworenen änderte sich sofort. Sie sahen in dem Opfer einen jener ruaflustigen Trunkenbolde, die nach dem Genuss von Alkohol um so eher Streit suchen, als ihre Körpermasse jedem Achtung einflössen. Der Gerichtsmediziner hatte festgestellt, dass das Opfer ein Meter fünfundachtzig gross war.
Ich brauchte also den Zeugen nur reden zu lassen, und der Freispruch war sicher. Doch triebt es mich leider, meinen Vorteil noch weiter auszunutzen.
“Herr Doktor, Sie hatten das Wort ‘Alkoholiker’ noch näher bestimmt, ich hätte gern, dass Sie es vor den Herren Geschworenen wiederholten.”
Und Dr. Paul ergänzt sogleich:
“Ich habe in der Tat angegeben, dass es sich um einen chronischen Alkoholiker handelt.”
Besser konnte es gar nicht gehen. Aber der Gerichtsmediziner merkte, dass die Geschworenen über diesen letzten Hinweis sehr betroffen waren, und stellt lächelnd klar:
“Freilich möchte ich den Herren Geschworenen dazu sagen, dass man als chronischen Alkoholiker einen Menschen bezeichnet, das ein oder zwei Aperitifs vor dem Essen und danach einen Verdauungsschnaps trinkt.”
Die Geschworenen sahen sich erneut an. Diese einfache Bemerkung hatte ihre Meinung gründlich gewandelt. Vielleicht hielten es einige von ihnen mit der vom Zeugen beschriebenen Lebensweise. Zumindest aber hatten sie Freunde, die auf diese Weise ihrer Gesundheit lebten, ohne deshalb gleich eine Gefahr für ihre Mitmenschen darzustellen. Der Bann war gebrochen, und es wehte wieder ein sehr viel strengerer Wind.
by Filifjonka | Jul 21, 2013
Interessant und mit der Transzendenz des Rechts direkt in Zusammenhang stehen verschiedene Bemerkungen zur Bedeutung des Kontextes von Äusserungen (im Strafverfahren; alle Zitate aus René Floriot, Für den Angeklagten, Hamburg 1960, orig. Au banc de la défense, Paris 1959):
Derselbe Witz, der in einer raffinierten Betrugsaffäre beifälliges Gelächter erregt, wird eisigem Schweigen begegnen, wenn es sich um ein Kapitalverbrechen handelt, dessen Opfer drei kleine Waisen hinterlässt. (36)
Vorweg eine Bemerkung zum Prozess (zwar zum Geschworenenprozess, aber die Bemerkung kann auch Gültigkeit für andere Prozesse beanspruchen):
Nicht zu unrecht sagt man, dass es vor dem Schwurgericht keine absolut sicheren oder aussichtslosen Fälle gibt. (62)
Und zum Ablauf:
Könnte man einen Prozess mehrere Male wiederholen, mit denselben Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern, aber jedesmal mit anderen Geschworenen, so würden die Urteile sehr verschieden ausfallen. (64)
Nicht die Geschworenen allein aber sind bedeutsam, auch der Vorsitzende:
Wenn man denselben Prozess mit denselben Personen, aber mit anderen Vorsitzenden mehrere Male wiederholte, würden die Ergebnisse sehr verschieden ausfallen, selbst wenn der Richter jedesmal für dasselbe Urteil stimmte. (74)
Man bemerke den Nachsatz: Selbst wenn der Inhalt des Richterspruchs derselbe wäre, bliebe die Persönlichkeit des Richters bedeutsam. Und Floriot bringt dafür einen Berg von Beispielen.
by Filifjonka | Jul 21, 2013
Hinzuweisen ist auf ein ausserordentlich hübsches Buch von René Floriot (1902-1975, einem der einst profiliertesten französischen Strafverteidiger), nämlich: “Für den Angeklagten”, Hamburg 1960 (orig. Au banc de la défense, Paris 1959), ein durch und durch nicht nur informativer, sondern auch sehr unterhaltsamer Bericht zur Strafverteidigung, Rhetorik und dem Strafrecht, das vor treffenden Bemerkungen nur so wimmelt:
Ganz allgemein hat der Rechtsanwalt mit zwei Gefahren zu kämpfen: dass seine Hörer gar nicht merken, worum es geht, und dass die Aufmerksamkeit erlahmt. (46)
Oder aber zur Argumentation:
Man könnte meinen, es schade nichts, ein zweifelhaftes Argument im Plädoyer zu verwenden, es sei denn, der Richter wiese es zurück. Aber das stimmt nicht. Jede Beweisführung ist ein Ganzes: Wenn die Hörer auch nur einen Augenblick das Gefühl haben, dass man sie nicht ernst nimmt, ist alle Arbeit umsonst, denn sie erscheint verdächtig. Und wenn der Gegner erst das schlechte Argument aufgreift und einen lächerlich macht, verliert man leicht einen schönen Prozess. (22)
Und die nachfolgende Bemerkung scheint nicht nur für den Gerichtsaal, sondern auch das Vorlesungsauditorium gültig:
Es gibt kein allgemeines Vorbild. Man muss sich wohl oder übel seinem Temperament überlassen. Junge Anwälte ahmen oft ganz unbewusst einen älteren Kollegen nach. Wenn sie ähnlich veranlagt sind, ist der Schaden gering. Andernfalls kommt eine traurige Parodie herau, weil nur die Ticks und Fehler übernommen werden. (45)
by Filifjonka | Jul 19, 2013
Im selben Text von Schopenhauer (Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik. Die Kunst, Recht zu behalten, Frankfurt 2005, 58) heisst es weiter:
Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: Was bleibt das anderes übrig als dass sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen?
Und dann etwas weiter (59 f.):
Ueberhaupt wird man nun finden, dass wenn zwei gewöhnliche Köpfe mit einander streiten, meistens die gemeinsam von ihnen erwählte Waffe Autoritäten sind: damit schlagen sie aufeinander los. – Hat der bessere Kopf mit einem solchen zu thun, so ist das Räthlichste, dass er sich auch zu dieser Waffe bequeme, sie auslesend nach Maasgabe der Blössen seines Gegners. Denn gegen die Waffe der Gründe ist dieser ex hypothesi, ein gehörnter Siegfried, eingetaucht in die Flut der Unfähigkeit zu denken und zu urtheilen.
Ach ja, das kommt dem Juristen doch bekannt vor. Sind Rechtswissenschaft und Theologie nicht essentiell verwandte Wissenschaften (soweit sie denn Wissenschaften sind), lösen beide doch Divergenzen unter Rekurs auf Autorität. Aber Schopenhauer ist natürlich zu intelligent, um das nicht zu erkennen:
Vor Gericht wird eigentlich nur mit Autoritäten gestritten, die Autorität der Gesetze die fest steht: das Geschäft der Urteilskraft ist das Auffinden des Gesetzes d.h. der Autorität die im gegebenen Fall Anwendung findet. Die Dialektik hat aber Spielraum genug, indem, erforderlichen Falls, der Fall und ein Gesetz, die nicht eigentlich zu einander passen, gedreht werden, bis man sie für zu einander passend ansieht: auch umgekehrt.
Ist das nicht, was Epipur sagt?
by Filifjonka | Jul 19, 2013
ja, es giebt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat sie zu überreden, dass solche allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun. Sie sind Schaafe, die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt: es ist ihnen leichter zu sterben als zu denken.
Sagt Schopenhauer in seiner Eristik (Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik. Die Kunst, Recht zu behalten, Frankfurt 2005, 56). Und dann kommt gleich im Anschluss daran eine Passage, die wirklich nur einem Intellektuellen aus der Feder schlüpfen kann. Himmlisch:
Es ist sehr seltsam dass die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urtheil und bloss kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbsterkenntniss ihnen abgeht.
Ganz so, als wäre Selbsterkenntnis verbreitet oder auch nur erstrebenswert (vgl. Anatole France für die gegenteilige Ansicht.).
by Filifjonka | Jul 17, 2013
Spricht die Encyclopédie:
VERTU, (Ord. encyclop. Mor. Polit.) il est plus sûr de connoître la vertu par sentiment, que de s’égarer en raisonnemens sur sa nature ; s’il existoit un infortuné sur la terre, qu’elle n’eût jamais attendri, qui n’eût point éprouvé le doux plaisir de bien faire, tous nos discours à cet égard seroient aussi absurdes & inutiles, que si l’on détailloit à un aveugle les beautés d’un tableau, ou les charmes d’une perspective. Le sentiment ne se connoit que par le sentiment ; voulez vous savoir ce que c’est que l’humanité ? fermez vos livres & voyez les malheureux : lecteur, qui que tu sois, si tu as jamais goûté les attraits de la vertu, rentre un instant dans toi même, sa définition est dans ton coeur.
Und das von der scheinbar so vernunftbesessenen Aufklärung! Offenbar wusste man damals noch, dass der Kopf nicht wirklich zuverlässig ist. Hingewiesen sei nur nebenher auf Adam Smith und seine Theory of Moral Sentiments.
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