Berlin 1919

Oh sieh doch nur, wie frei wir heute sind.

Meine Hauptinformationsquelle blieben für mehrere Wochen der gehrocktragende Direktor des Adlon, der Kellner, der mir den Tip mit Liebknechts großer Stunde im Schlafzimmer der Hohenzollem gegeben hatte, und eine Gruppe homosexueller Flieger, die ich in einem Offiziersclub kennengelernt hatte. Es waren elegante Burschen, parfümiert und mit Monokel versehen und gewöhnlich voller Heroin oder Kokain. Sie liebten sich wechselseitig ganz offen, küssten sich in Cafe-Nischen und verdrückten sich etwa um zwei Uhr nachts in ein Haus, das einem von ihnen gehörte. Eine oder zwei Frauen befanden sich gewöhnlich in der Gesellschaft – breitmündige, dunkeläugige Nymphomaninnen mit adligen Titeln vor ihren Namen, doch mit unedlen Leidenschaften und Ausschnitten an ihren Flanken. Gelegentlich wurden der Haus-Gesellschaft kleine Mädchen von zehn oder elf Jahren zugeführt, die man vom Pflaster der Friedrichstraße rekrutierte, wo sie nach Mitternacht mit harten Gesichtern in polierten Stiefeln und kurzen Kinderkleidern paradierten.

So der Auszug aus dem Bericht von Ben Hecht im Jahr 1919. Schwer vorstellbar heute. Die gesamte Bagage wäre im Gefängnis, so kleinräumig und umfassend haben wir die Kontrollen eingerichtet.

Ben Hecht, Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919 (Auszug aus den Memoiren: A Child of the Century, 1954),  2. Auflage, Berenberg: Berlin 2014, 13 f.

Gruppenbildung

La caprice du numérotage m’avait placé au côté d’une petite fille, dix onze ans, pourvue d’un de ces écriteaux blancs informant que l’enfant voyageait non accompagnée. Je n’y pris pas garde. Moi-même je voyageait non accompagné. On nous avait sans doute regroupé pour plus de commodité.

Jean-Claude Grumberg, Mon père. Inventaire, Paris  2003, 133 f.

Abstrakte Liebe

Nicht einmal in der privaten Sphäre entstehen Morde aus Antipathie, kommt Frieden aus der Genauigkeit der Einander-Kennens. Im Gegenteil: Menschen sind nicht so, dass es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten. Wann hätte je die berüchtigte ‘unüberwindliche Abneigung’ den Gattenmord produziert? Eher die unüberwindliche Zuneigung zu einem virtuellen Gatten.

Hans Blumenberg: Man auch nicht mögen dürfen, in: Hans Blumenberg/Carl Schmitt: Briefwechsel 1971-1978 und weitere Materialien, Suhrkamp 2007.

Hauptwerke

Was die rühmende Formel angeht, die erste ‘Kritik’ [die Kritik der reinen Vernunft, 1781, von Immanuel Kant] sei das Hauptwerk der deutschen Aufklärung gewesen, so besagt sie schon deshalb wenig, weil diese Aufklärung damit auch schon zuende war – was für ‘Aufklärungen’ nicht der Effekt eines Hauptwerks sein sollte.

Hans Blumenberg, Gleichgültig wann? in: Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfur 2000.

Frieden und Freiheit

Das Schiff hatte acht Passagiere an Bord, keine Frau darunter. Infolgedessen herrschte Freiheit und Friede, jeder konnte tun, was er wollte, und besonders, wer gar nichts tun wollte, fand hierzu die herrlichste Dauer-Gelegenheit.

Alfred Polgar, Kleine Schriften, Bd. 2,  Kreislauf, Rowohlt  1983

Wissen ist wenig

Damit ist freilich nicht richtig, dass der im Lebensvollzug verleugnete Tod geleugnet würde. Er ist vorhanden durch das Wissen, dass alle sterben müssen. Aber Wissen ist wenig, man muss es auch glauben können. Niemand kann glauben, dass es mit ihm einen Anfang genommen hat und ein Ende nehmen wird. Das liegt im Wortsinne ‘ausserhalb der Reichweite’ unseres Bewusstseins. Wir waren nicht dabei, als wir anfingen, und wir werden nicht dabei sein, wenn wir enden. Jeder erfährt es nur indirekt: Alle anderen haben einen haben Anfang und Ende, und man hat auch ihm bescheinigt und wird es ihm bescheinigen, dies sei bei ihm nicht anders.

Hans Blumenberg, Ein Instinkt der Uneigentlichkeit?, in: Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt 2000