Strafjustiz in England

Der anonyme Barrister will anonym bleiben, damit er als Barrister weiterarbeiten kann. Dieser Wunsch ist alleine schon angesichts eines Jahreseinkommens von ca. 25’000 Pfund eindrücklich. Am Geld – und das gilt auch die Strafverteidiger unseres Landes – kann die Berufswahl nicht liegen.

The attraction to an egotist with an insatiable desire to hold centre stage – a description applicable to the near-entirety of the Bar – is plain; but for me, and most barristers I know, there is a greater, overarching reason for choosing this path: crime is where the stakes are highest.

Der Secret Barrister schreibt einen Blog und ist aktiv auf Twitter (@BarristerSecret). Das Buch, um das es hier geht, erzählt vom englischen Rechtssystem, genauer von der Strafjustiz, seiner Geschichte und seinen gegenwärtigen Problemen,

I’ve lost count of the times I’ve locked eyes with a legal advisor and watched their eyebrows ascend to the heavens as a magistrate reads out a decision wildly ignoring the legal advice patiently explained to them just moments before.s

es erzählt vom Leben der Barrister (wobei es nebenher auch den Unterschied zu den Solicitors erklärt), also einfach gesagt der Prozessanwälte, derjenigen Gruppe von Juristen, die im Strafprozess Anklage und Verteidigung vertreten. Es illustriert seine Darstellung der aktuellen englischen Rechtspraxis an konkreten Fällen, in einem sehr direkten und doch poetischen Ton, der alles andere als politisch korrekt aber stets mitfühlend und menschlich ist.

Rio had been refused bail, both by the magistrates and, upon appeal, by a Crown Court judge, and this, along with a series of other perceived sleights, lay behind his decision to dispense with his previously instructed counsel and direct his solicitor to ‘find me some other cunt’. Alan, with me as his willing lackey, was that cunt.

Darüber hinaus aber bringt es eine verheerende Kritik des gegenwärtigen Zustandes der englischen Justiz vor, die umso mehr erschreckt, als die Parallelen zu unser eigenen Situation überdeutlich sind.

The net result of these reforms should terrify: an enormous influx of serious cases subjected to the second-class treatment of the magistrates’ courts, hammered through the sausage factory of summary justice by our jolly, willing amateurs, and with enormous restrictions on the right to appeal.

Höchst empfehlenswert für jeden, der sich für Justiz interessiert, oder Gesellschaft, oder die Welt, in der wir leben, oder einfach für Recht, und Menschen.

The Secret Barrister: Stories of the Law and how It’s Broken. 376 S. London: Macmillan 2018.

Zeit der Zauberer

Ein ganz wunderbares Buch über ein Jahrzehnt Philosophie und seine geistigen Orientierungsgrössen: Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein. Die Seiten 92-95 erhellen mehr Wittgenstein als manches Buch. Mehr als empfehlenswert.

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das grosse Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929, Stuttgart: Klett-Cotta 2018.

Aufklärung, Atheismus und Rousseaus Freiheitsfeindlichkeit

Und wenn wir schon dabei sind: Wer sich für die Herkunft unserer Gesellschaft interessiert, findet mehr als genügend Anschauungsstoff in Philipp Bloms Buch “Böse Philosophen”. Es handelt vom Salon des Barons von Holbach im 18. Jahrhundert in Paris und es treten auf: Holbachs Freund Denis Diderot, David Hume, Voltaire, Cesare Beccaria und viele mehr, und natürlich der unvermeidliche Jean-Jacques Rousseau. Für alle, die Rousseau lieben, wohl das falsche Buch, belegt es doch detailreich, warum sich seit Robespierre alle totalitär Orientierten, alle Diktatoren mit Freude auf den Schweizer bezogen haben. Wie gross das Unglück ist, dass sich Rousseau als Held durchgesetzt hat, wird überdeutlich spürbar in diesem wunderbaren Buch.

Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Carl Hanser Verlag 2011. 

Staaten und ihre Gründung

Wer sich für die Frage interessiert, was denn einen Staat ausmacht, erhält zwar keine theoretische Antwort, aber ein gutes Anschauungsbeispiel und einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der “Baierischen Räterepublik”, November 1918 bis April 1919, im Buch von Volker Weidermann über den Versuch, der Dichter und Träumer in der Welt zu sein. Vielleicht weckt es ja sogar die Lust, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke oder Thomas Mann wiederzulesen:

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 2017.

 

Kindheit

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.

Heimito von Doderer, Ein Mord den jeder begeht, 2008 [1938], 5.