Spute Dich! Das Leben vergeht rasend schnell

Das nächste Dorf

Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß — von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen — schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“

Franz Kafka. Aus: Ein Landarzt, Leipzig 1919

Täuschungen bauen die Welt

Held meines Buches ist der Mensch in seinem stockdunklen Drange. Seine Anstrengungen, sich über das Mass der Leiden, die ihm aufgebürdet sind, hinwegzutäuschen, bauen die Welt und bestimmen deren Lauf.

Alfred Polgar, In der Zwischenzeit, Amsterdam 1935, 11

Prognosen

Lakai: Es ist wahrlich nicht richtig, dass der gnädige Herr nicht auf die Gesundheit des gnädigen Herrn achtet.

Turai: Ich? Auf meine Gesundheit?

Lakai: Ja. Im Aschenbecher in der Bibliothek fand ich wenigstens fünfzig Zigarettenstummel.

Turai: Das stimmt nicht. Es waren genau siebenunddreissig.

Lakai: Auch das sind viele.

Turai: Und wie viele rauchen Sie?

Lakai: Fünfzehn.

Turai: Sie werden lange leben.

Lakai: Danke, Herr Professor.

Turai: Ich bin kein Professor.

Lakai: Nur, weil Sie sagen, ich werde lange leben…

Turai: Das wünsche ich Ihnen nur, mein Lieber.

Lakai: Danke, gnädiger Herr. Ich möchte weinen, gnädiger Herr.

Turai: Warum?

Lakai: In der heutigen, eigensüchtigen Welt ein solch goldiger Mensch wie der gnädige Herr. Wie Sie alles interessiert!

F.  Molnar, Spiel im Schloss

Kündigen mit Stil

William Faulkner (1897-1962), US-amerikanischer Nobelpreisträger kündigt seine Stelle bei der Post mit folgendem Brief:

As long as I live under the capitalistic system, I expect to have my life influenced by the demands of moneyed people. But I will be damned if I propose to be at the beck and call of every itinerant scoundrel who has two cents to invest in a postage stamp.

This, sir, is my resignation.

Zu finden ist das hier. Ebenso übrigens wie erheiternde Informationen über den Umgang mit Faulkner bzw. seiner Liebe zum Alkohol.

Selfies

Ein schönes Interview im Spiegel mit Valentin Groebner, Professor an der Uni Luzern zu Selfies und Portraits:

SPIEGEL: Von der Illusion des Lebendigen, Echten lebt heute die Fotografie.

Groebner: Ja, da ist etwas, das wir glauben wollen, obwohl jede Erfahrung dem widerspricht – nicht nur unser Erschrecken angesichts unserer eigenen Selfies, sondern beispielsweise auch die Kriminalistik: Von Anfang an war die Verbrecherfahndung mithilfe von Porträtaufnahmen eher enttäuschend. Das überrascht eigentlich nicht: Nirgends im Körper sind so viele Muskeln versammelt wie im Gesicht. Nicht nur, dass wir es willentlich extrem verändern können – es funktioniert als Kommunikationsschnittstelle ja überhaupt nur, weil es beweglich ist. Dass ausgerechnet die Abbildung eines stillgestellten Gesichts die Wahrheit über eine Person ausdrücken soll, ist eine verbreitete, aber absurde Vorstellung.

SPIEGEL: Warum ist sie so hartnäckig?

Groebner: Sie steht wohl für einen sehr alten Wunsch: Wir wollen an diese Bilder glauben. Wir möchten verführt und von ihnen angeschaut werden. Damit stecken wir in jener magischen, emotionalen Tradition, die mit den frommen Andachtsbildern vor 800 Jahren begonnen hat. Das ist ja auch in Ordnung: die Werber als Nachfolger der raffinierten Bilderzauberer von früher. Es soll mir bitte nur niemand erzählen, wir lebten in einer aufgeklärten, nüchternen und entzauberten Welt.