Dickens und das Recht

Eine hübsche Stelle aus Charles Dickens‘ (1812-1870) Roman Oliver Twist (1838; im Volltext hier) zum Recht.

“It was all Mrs. Bumble. She would do it,” urged Mr. Bumble; first looking round, to ascertain that his partner had left the room.

That is no excuse,” returned Mr. Brownlow. “You were present on the occasion of the destruction of these trinkets, and, indeed, are the more guilty of the two, in the eye of the law; for the law supposes that your wife acts under your direction.”

If the law supposes that,” said Mr. Bumble, squeezing his hat emphatically in both hands, “the law is a ass — a idiot. If that’s the eye of the law, the law is a bachelor; and the worst I wish the law is, that his eye may be opened by experience — by experience.”

Tja, tja, das für die Wirklichkeit blinde Recht. Vieles hat sich da nicht verändert, ausser die Paarbeziehungen selbst natürlich.

Gemeinschaft und der Tod

Es gab also Menschen ausser ihm, die daran laborierten zu sterben und es wussten. Natürlich hatte er das schon vorher geahnt, aber es war ihm nicht bewusst geworden, er sah solche einfach nicht. Das ist ja der Kernpunkt der sozialen Frage. Es existierten diese Elenden, diese hungrigen Massen, diese leiblich oder geistig Unterernährten, Arbeiter, heimatlose Bauern, Verbrecher oder sonstige wahrscheinlich minderwertige Existenzen, und warum sollten sie nicht minderwertig sein, sie krepierten ohnedies vielleicht noch schneller; sie existierten, diese Elenden, in ihrem schamlosen, breiten Elend, gewiss, man wusste das, sie existierten, aber man sah sie nicht, wollte sie nicht sehen, man sah weg, kurz, man sass ihnen nicht gegenüber in der gleichen Lage wie sie.
Er sass ihr gegenüber, ganz nah. Er musste sterben. Sie musste sterben. Er wusste es. Sie wusste es. Aber hatter er nicht einen Trost mehr, da er jetzt, eben in ihr, den Kameraden seines Elends sah? Freilich hätte er bedenken sollen, dass letzten Endes alle Menschen seine Kameraden seien. Alle lebten. Alle mussten sterben. Alle wussten es.

H. Kesten, Vergebliche Flucht, 1926

Huren und Literatur

Es gibt in der modernen Literatur kaum einen Fall, in dem ein verzweifelter, ein unglücklicher Mensch, ein Mörder, Liebhaber, Bankdefraudant oder sonst einer, der kurzweg entschlossen ist, das Leben zu geniessen, nicht zu einer Dirne gegangen wäre. In Dramen, wo der Schaulust des Theaterpublikums Rechnung getragen werden muss, ist es gewöhnlich ein ganzes Bordell, das vor die Rampe tritt, in Romanen genügt schon eine einzeln auftretende Dirne. Es ist einem belesenen Menschen heutzutage so selbstverständlich, auf dem dramatischen Leidensweg eines jungen Menschen das Freudenhaus zu finden, dass Garrett sich wunderte, warum er so lange gebraucht hatte, um dieses Allheilmittel derjenigen Menschen zu finden, denen die Wonnen des Bauches noch nicht das letzte Erinnern geraubt haben an ihre niedergetretene Seele.

H. Kesten, Vergebliche Flucht,  1926

Hinkels Rede

Einer meiner absoluten Favoriten, leider heute ein wenig in Vergessenheit geraten. Eine der besten Reden überhaupt. Charlie Chaplin als Diktator Hinkel im “Great Dictator”.


Da flüatn na ta struz.

Update: Hier ein hübscher Artikel im Spiegel vom 21. August 2015

Nationalität ist eine Erfindung

Die nachfolgende Passage aus H. Kestens Erzählung “Oberst Kock” stammt aus dem Jahr 1946, sie bringt aber auf den Punkt, was heute noch genau so gilt:

“Sind Sie nicht Pole” fragte ich.

“Darauf müsste ich Ihnen mit der Geschichte der polnischen Republik antworten. Die Polizei fragte mich: ‘Sind Sie in Polen geboren?’

‘Ich bin älter als die polnische Republik.’

‘Wo sind Sie geboren …’

‘In Odessa …’

‘Also sind Sie Russe?’

‘Meine Mutter war Schweizerin.’

‘Und Ihr Vater?’

‘Unbekannt.’

‘Also sind Sie Schweizer?’

‘Meine Mutter hat einen österreichischen Universitätsprofessor geheiratet, der mich adoptiert hat.’

‘Also sind Sie Österreicher?’

‘Österreich hat der Hitler annektiert.’

‘Also sind Sie Deutscher?’

‘Als Oberst der polnischen Armee?’

‘Dann sind Sie doch Pole?’

‘Ich habe gegen die Zusammensetzung der polnischen Regierung im Exil protestiert, nun empfängt mich mein Konsul nicht mehr. Ich bin nicht in Polen geboren. Wie soll ich im Exil und ohne Papiere beweisen, dass mich mein polnischer Vater adoptiert hat?’

‘Mit was für Papieren kamen Sie ins Land?’

‘Mit einem französischen Ausweis.’

‘Sind Sie Franzose?’

‘Keineswegs.’

‘Also staatenlos.’

‘Ich bin Weltbürger!’ gestand ich.

‘Keine Flausen!’ schrie man. ‘Sie machen sich verdächtig. Haben Sie noch Verwandte in Europa?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ein ordentlicher Mensch kennt seine Familie! Ihre Mutter lebt noch?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ihrer Mutter letzter Wohnort?’

‘Sie hatte keinen.’

‘Eine Landstreicherin?’

‘Im Gegenteil. Sie war eingesperrt. In einem Konzentrationslager bei Warschau.’

‘Weshalb?’

‘Sie soll in der Strassenbahn geäussert haben, die Deutschen seien auch Menschen.’

‘Aha. Also deutschfreundlich.’

‘Im Gegenteil. Die Nazis bestraften die Verleumdung.’

‘Wie?’

‘Jawohl.’

‘Ach so. Das heisst? Schrieb Ihnen Ihre Mutter nie?’

‘Nein. Aber der Schweizer Konsul in Ankara gab mir Nachricht von ihr.’

‘In Ankara?’

‘In der Türkei. Er ist ein Vetter meiner Mutter. Sein Schwager ist Major in einem sächsischen Regiment, das in dem französischen Badeort Biarritz steht, an der spanischen Grenze. Der Major hat eine Nicht in Berlin. Die Nichte hat eine Freundin. Die Freundin hat ein Verhältnis mit einem Gestapobeamten, der in Warschau Dienst tut. So hatte ich auf dem denkbar schnellsten Wege Nachricht von meiner Mutter, in knapp vier Monaten, natürlich telegraphisch.’