Manche freilich …

Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.

Hugo von Hofmannsthal, 1896. Texte und Interpretationen hier.

Nichtigkeit

“I have no confidence. So, in my heart of hearts I look on myself as a failure. Not that this really matters. Sub specie aeternitatis we all, without exception, are failures. I don’t know where I read that ‘death undermines our confidence in life by showing that in the end everything is equally futile before the final darkness’. Yes, ‘futile’ is the right word. Still I musn’t grumble: I have more friends than enemies and there are moments when I am almost glad to be alive. When I watch the sun set and moon rise, or see snow mountain tops.”

Fred Uhlman (1901-1985), Reunion 2006 [1971], 78.

Die Erzählung ist als “Der wiedergefundene Freund” auf deutsch erschienen. Die Diogenes-Ausgabe umfasst diese Erzählung, diejenige der DVA zudem noch die sie ergänzende “No coward soul is mine”, die dieselbe Geschichte aus der Perspektive Konradin von Hohenfels’ erzählt.

Das Böse überwinden

Vergeben habe ich nicht, aber etwas Schlimmeres ist mir passiert. Ich als Pole (denn gerade „als Pole” hatte ich das erlebt) musste Hitler werden.

Ich musste all jene Verbrechen auf mich nehmen, ganz so, als hätte ich sie selbst begangen. Ich wurde Hitler und musste annehmen, dass Hitler in jedem sterbenden Polen gegenwärtig war, dass er in jedem lebenden Polen ständig gegenwärtig ist.

Verurteilung, Verachtung, das ist keine Methode, das ist gar nichts… es festigt das Verbrechen nur, wenn man ewig darauf herumhackt… Schlucken muss man es. Aufessen. Man kann das Böse überwinden, aber nur in sich selbst. Völker der Erde: Meint ihr immer noch, Hitler sei nur ein Deutscher gewesen? 

Witold Gombrowicz, Berliner Notizen (Tagebuch 1964), Berlin 2013, 124

Leid … nebenher

Eine meiner Lieblingskompositionen ist die Sonate K87/L33/P43 in h-moll (Andante mosso) von Domenico Scarlatti (1685-1757). 22 verschiedene Aufnahmen besitze ich davon und ich möchte keine missen. Die kürzeste Version dauert 2 Minuten 48 Sekunde (gespielt von Vladimir Horowitz), kurz sind auch die von Pierre Hantaï (3’27”) und Marcelle Meyer (3’48”; die andere Aufnahme von ihr, 7 Jahre später, 1953, dauert mit 5’32” erheblich länger). Die längste Version nimmt 7’14” (Anne Queffelec) in Anspruch. Ähnlich lang sind auch Christian Zacharias (6’43”) und Tedi Papavrami (6’33”, Transkription für Violine solo). Es gibt viele Einspielungen auch auf dem Netzt. Hier nur eine davon:

Manchmal frage ich mich, was an dem Stück so Besonderes ist, was mich daran bindet und damit verbindet? Vieles und Verschiedenes, natürlich, wie immer. Aber eines vielleicht mehr als alles andere: Die Aporie von Glück und Leid, die darin perfekt zum Ausdruck kommt.

Beginnen wir mit dem Glück, das von der Sonate ausgeht, das sie regelrecht ausstrahlt. Das ist kein hüpfendes, übermütiges Glück, es ist ein ruhiges, bedächtiges, tröstendes Glück, eines das um die dunklen Zeiten weiss, die Schmerzen und das Leid. Dieses Glück aber entsteht nicht vor dem Hintergrund des Unglücks, das überwunden oder gemeistert ist, es ist kein Aufatmen nach bestandener Prüfung, sondern eher eine pflichtbewusste Willensanstrengung. Wie das etwa in den “Zehn Wegen zur Tugend” von Zbigniew Herbert zum Ausdruck kommt, wo es heisst:

7. Try to be happy, for only such people can make others happy.

Dasselbe Glück, das sich ganz ähnlich auch bei Jorge Luis Borges und seinen Fragmenten eines apokryphen Evangeliums findet:

4. Unselig der weint, denn er hat bereits die elende Gewohnheit des Weinens.

5. Selig die wissen, daß das Leiden keine Krone der Glorie ist.

Glück also als Leistung, als Grossmut und bewusst Gewolltes. Aber natürlich ist dann auch das Leid darin enthalten. Kein schreiendes, scharfes, schneidendes Leid, auch kein weinendes (dazu ist es zu gross), eher ein sanftes, resigniertes, weiches, im eigentlichen Sinne trostloses Unglück. Ein Leiden, das der englische Dichter W. H. Auden in seinem Gedicht Musee des Beaux Arts perfekt beschrieben hat:

About suffering they were never wrong,
The old Masters: how well they understood
Its human position: how it takes place
While someone else is eating or opening a window or just walking dully along;
How, when the aged are reverently, passionately waiting
For the miraculous birth, there always must be
Children who did not specially want it to happen, skating
On a pond at the edge of the wood:
They never forgot
That even the dreadful martyrdom must run its course
Anyhow in a corner, some untidy spot
Where the dogs go on with their doggy life and the torturer’s horse
Scratches its innocent behind on a tree.

Das Gedicht macht in seiner zweiten Hälfte seinen Bezug explizit, nämlich die “Landschaft mit dem Sturz des Ikarus” von Pieter Bruegel.

Bruegel,_Pieter_de_Oude_-_De_val_van_icarus_-_hi_res

Vom ertrinkenden Ikarus nämlich sind nur noch seine Beine zu sehen, und auch das nur peripher, rechts unten. Und genau dies, die notwendige Nebensächlichkeit, die Selbstverständlichkeit des Leids, so scheint mir, ist der funkelnde Kern dieser wunderbaren Sonate.

Vor dem Gesetz

Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, für die Frage der Abstraktion, die wir hier verschiedentlich diskutiert haben, auf eine ganz kleine Geschichte von Franz Kafka hinzuweisen, “Vor dem Gesetz“, erschienen 1914. Nachfolgend der Volltext:

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich,“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Ist das nicht das eigentliche Problem auf den Punkt gebracht?

Bewusstsein und Leid

Aber kann eine Philosophie, deren Ausgangspunkt das Bewusstsein ist, viel mit dem Dasein gemein haben? Das Bewusstsein als solches ist doch dem Leben gleichgültig. Das Leben kennt nur die Kategorien von Leid und Vergnügen. Nur in den Möglichkeiten Schmerz und Lust existiert die Welt für uns. Solange es kein Bewusstsein von Schmerz oder Lust ist, ist das Bewusstsein für uns ohne Belang. Ich habe mir die Existenz dieses Baumes bewusst gemacht – ja und? Er wärmt mich nicht, er macht mich nicht frieren. Bewusstgewordenes Sein ist kein Sein – solange meine Sinne es nicht empfinden. Wichtig ist bist das bewusstgemachte, sondern das empfundene Sein. Das Bewusstsein muss also ein Bewusstsein der Empfindungsfähigkeit sein, nicht unmittelbares Bewusstsein des Seins.

Das Leid aber (und also auch das Vergnügen) steht seinem Wesen nach im Widerspruch zum Begriff der Freiheit. Zu sagen, dass wir uns eine gewisse, grundsätzliche Möglichkeit von Freiheit angesichts des Leidens bewahren (die an der Sinnhaftigkeit unseres Wertesystems hinge; und sei es auch nur die Freiheit “in der Situation”), hiesse diesem Wort überhaupt jeden Sinn zu rauben. Das Leiden ist etwas, das ich nicht will, das ich erleiden muss, entscheidend ist hier der Zwang, also der Mangel an Freiheit. Es gibt wohl kaum einen grösseren Gegensatz als den zwischen Leiden und Freiheit.

Witold Gombrowicz, Berliner Notizen (Tagebuch 1964), Berlin 2013, 79