Staatsanwalt Sierlin

Obwohl nur mässig begabt, nahm er doch seinen Weg: durch nur halb genossene Studien- und arbeitsreiche Referendar- und Assessoren-Jahre, durch alle – mehr oder weniger genügend – bestandenen Examina, bis er sich zu seiner jetzigen Stellung als zweiter Staatsanwalt an einem der Landgerichte der Hauptstadt emporgeschwungen.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 21

Versprechen, ach, Versprechen

Queste promesse che gli uomini, paurosi l’uno dell’altro, si scambiano in una carta più o meno solenne sono come le promesse di eterna fedeltà nell’amore: valgono finché valgono, rebus sic stantibus, finché la natura, la passione, la follia non prendono il sopravvento.

 

Diese Versprechen, die sich Menschen, aus Angst voreinander, mehr oder weniger feierlich auf Papier geben, sind wie die Versprechen der ewigen Treue in der Liebe: Sie sind gültig, solange sie gültig sind, rebus sic stantibus, bis die Natur, die Leidenschaft oder der Wahnsinn überhand nehmen.

Salvatore Satta, Il mistero del processo, Milano: Adelphi 2007

Weltende

Wie bekannt, wird übermorgen, am Dienstag, dem ersten Februar, um 17 Uhr 45, die Welt untergehen. Unmittelbar danach findet das Jüngste Gericht statt.

Die zuständige Abteilung beim Rat der Hauptstadt ersucht die Einwohnerschaft, Panik zu vermeiden. Andererseits ist jede Ungeduld überflüssig, da jeder ohne Ausnahme an die Reihe kommt.

Verkehrseinschränkungen grösseren Umfangs werden nicht erforderlich sein, doch wird der Burgtunnel wegen eventueller Einsturzgefahr um 15 Uhr gesperrt. Von dieser Zeit an werden die Autobusse 4, 5 und 56 nicht über die Kettenbrücke, sondern über die Elisabeth-Brücke fahren.

Züge, Schiffe und Autobusse verkehren fahrplanmässig; vom Vigadó-Platz aus geht sogar ein letzter Ausflugsdampfer; er wird bei genügender Beteiligung als beflaggter Katafalk in die malerischen Gebiete des Eisernen Tores und des Schwarzen Meeres hinunterfahren.

Allen jenen, die um eine Verlängerung ihres Lebens ansuchen wollen, geben wir bereits jetzt bekannt, dass ihr Verlangen nicht erfüllt werden kann. Auch werdende Mütter und Neugeborene bilden keine Ausnahme; einige beklagen sich allerdings mit Recht darüber, da sie gerade übermorgen um 17 Uhr 45 auf die Welt kommen sollen und infolgedessen ein enorm kurzes Leben haben werden.

Dagegen haben alle jene ein besonderes Glück, die zu diesem Zeitpunkt sowieso verscheiden würden. Sie lachen sich jetzt eins ins Fäustchen.

Istvan Örkeny, Hinweise und Verkehrseinschränkungen in Verbindung mit den Ereignissegen am 1. Februar, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auf., 126 f.

Ein Bettler, wenn er nachdenkt

O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein misrathener Sohn, den der Vater aus dem Hause stiess, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab.

Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Bd. 1, Tübingen 1797, 12.

Verbote

Er stand im Nichts. Die Balkongeländer waren noch nicht angebracht. Am Eingang hing zwar ein Zettel: «Balkon betreten streng verboten»; und obwohl Kirch diesen Zettel jeden Tag gelesen hatte, wusste er doch nicht, was auf ihm geschrieben stand, denn ihm schauderte instinktiv vor jedem Verbot. Er nahm nur zur Kenntnis, was ihm behagte. Da ihm die winterliche luftige Frische behagte, trat er einen Schritt vor. Dann noch einen. Und dann stürzte er ab.

Istvan Örkeny,  Schlechter Traum, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auflage, 118 f.

Gedanken im Keller

Der Ball war durch das eingeschlagene Fenster in den Kellergang gefallen.

Eines der Kinder, das vierzehnjährige Mädchen des Hausmeisters, hinkte ihm hinterher. Die Strassenbahn hatte der Ärmsten ein Bein abgefahren, so war sie schon glücklich, wenn sie den anderen den Ball bringen konnte.

Im Keller herrschte Halbdunkel, ihr war aber dennoch so, als hätte sich etwas in einer der Ecken bewegt.

»Mietzil« Das Hausmeistertöchterchen mit dem Holzbein blieb stehen. »Wie kommst du denn hierher, Mietzilein?«

Doch dann griff sie nach dem Ball und eilte, so schnell sie nur konnte, mit ihm davon.

Die alte, garstige und stinkige Ratte — von der das Mädchen geglaubt hatte, sie sei die Katze — stutzte. So hatte noch nie jemand zu ihr gesprochen.

Man verabscheute sie nur immer, bewarf sie mit Kohlen oder floh entsetzt vor ihr.

Erst jetzt kam ihr zum Bewusstsein, wie anders alles hätte sein können, wäre sie zufällig als Katze geboren.

Ihre Gedanken gingen sogar noch weiter — denn sie war unersättlich! Wenn sie nun gar die Hausmeisterstochter mit dem Holzbein wäre? Doch das wäre zu schön. Das konnte sie sich nicht einmal mehr vorstellen.

Istvan Örkeny,  Titelgeschichte aus: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auflage, 118 f.