Kann man sich sehnen, wenn man seiner Bürgerlichkeit entkommen und in die Liebe gefallen ist, hatten wir gefragt, und ich hatte mein Unwissen eingestanden. Ich habe dem nachzuspüren versucht und würde nun die Frage klar bejahen. Ich will ein Beispiel geben:
Kennst Du die Streicherserenade C-Dur op. 48 von Pjotr Tschaikowski? Ihr erster Satz (Pezzo in forma di sonatina), besonders der Beginn und die ersten zwei Minuten sind so sehnsuchtsschwer, so unerfüllt, dass ich sie kaum hören kann, ohne zu weinen. (Vielleicht wäre es nicht uninteressant, die verschiedenen emotionalen Tönungen der Traurigkeit anhand konkreter Musikstücke zu diskutieren.) Wenn ich versuche, das zu lokalisieren, an etwas Konkretem festzumachen, dann führt es mich immer in meine Kindheit. Und vielleicht ist es dies, Sehnsucht nach einem zärtlicheren, beschützteren Leben. Auch die Liebe nämlich, diese Alleskönnerin, vermag nicht die Wunden zu heilen, die uns geschlagen wurden, denn das bewusste Leben ist ja immer beschädigt, vielleicht ist gar Bewusstsein selbst eine Beschädigung. Und so gehören denn unsere Wunden nicht nur unabdingbar zu uns, wir sind diese Wunden. (Dies vielleicht auch der Grund, dass ich den Geretteten so sehr misstraue.) Auch wenn die Liebe notwendig neues Leid bedeutet, so kann sie uns doch trösten. Trösten, indem sie uns vergessen macht. Vergessen, wer wir sind. Die Liebe erlöst uns von uns selbst. Und unseren Erinnerungen – und damit auch von unseren Beschädigungen.
Der 1. Satz der Serenade mit dem Philadelphia Orchestra und Ormandy hier; die vollständige Serenade mit der Bayerischen Kammerphilharmonie und Greenberg hier.
Bei diesem Theatermenü wird gar nichts ausgelassen: Sowohl Liebhaber zerbrechlicher Vorspeisen als auch diejenigen, die es beim Nachtisch gern etwas lauter mögen, kommen auf ihre Kosten!
Wenn wir schon beim Feuer sind: Die schönste Erzählung zu Liebe, Sehnsucht und Feuer, ist wohl Das Feuer aller Feuer von Julio Cortàzar (1914-1984), einem argentischen Schriftsteller, der viel experimentiert hat und hier zwei Geschichten derart ineinander webt, dass es einen schlicht umhaut. Lass Dich nicht verwirren. Lies sie zu Ende!
Kann man sich nach etwas sehnen, das man nicht kennt? Aber natürlich! Das erleben wir alle, wenn wir lieben. Plötzlich wissen wir, was wir immer vermisst haben, was uns immer gefehlt hat. Mit einem Mal sind wir allein (oder besser: werden uns bewusst, dass wir es sind). Mit einem Mal sind alle Regeln und Gewissheiten bedeutungslos, alle unsere kleinen gutbürgerlichen Mäuerchen und Zäunchen, die wir aufstellen, um uns an wenigstens Etwas halten zu können, erweisen sich als Spielzeug. Für Platon ist dieses Sehnen der eigentliche Urgrund der Liebe. Im Symposion (Gastmahl) beschreibt er bzw. lässt er Aristophanes beschreiben, wie die Menschen ursprünglich rund wie Kugeln waren, bis die Götter sie, um sie zu schwächen, in zwei Hälften schnitten und damit letztlich die Geschlechter schufen, die seither an ihrer Unvollständigkeit leiden und sich nach der verlorenen Ganzheit sehnen.
Ist Liebe also Erfüllung einer Sehnsucht? Kaum. Das hatte ich erst gedacht und es im ersten Anlauf auch bedenkenlos hingeschrieben, aber: Ach nein! Das ist leider ganz falsch, grundfalsch! Denn mit Erfüllung hat sie wohl wenig zu tun. So wenig gar, dass man fast sagen möchte, wo Erfüllung ist und deshalb unser Sehnen aufhört, zieht sich die Liebe sachte zurück. Aber hilft sie uns denn wenigstens in unserem Sehnen, fragst Du, ist sie Trost und Beistand? Ach, wie gerne würde ich das glauben, aber auch dies trifft wohl, wenn man genauer hinschaut, nicht zu.
Liebe scheint keine Reaktion auf unsere Sehnsucht, die dunkel und schwer, kaum fasslich in uns … schwelt hätte ich beinahe gesagt, denn wie von einem lodernden Feuer mit der Zeit nur noch die (natürlich viel heissere) Glut übrig bleibt, so scheint unsere Sehnsucht Überbleibsel eines Feuersturms, den wir überlebt haben. Liebe aber ist überhaupt keine Reaktion auf irgendetwas. Sie ist immer schon da. Wir können sie nur zulassen. Oder eben nicht. Und selbst dies ist nicht eigentlich wahr. Denn nur die Liebe vermag dem Tod Paroli zu bieten. Wir haben nichts anderes. Nicht wirklich eine Wahl also. Nulla salus extra amorem. Liebe aber widersteht dem Tod. Mit Leichtigkeit. Er besiegt sie nicht. Niemals. Kann sie gar nicht besiegen. Dazu fehlt im die Kraft. Sie aber ermattet nicht und erlahmt nicht. Sie wird nicht müde. Und sie gibt auch nicht auf. Sie geht einfach nur weg. So wie die Glut erkaltet. Ohne Grund, Erklärung oder Anlass. Sie geht einfach. Wie Frauen eben gehen. Erst dann hat er eine Chance.
Wie aber, fragst Du – langsam ungeduldig werdend über diese stetigen Abschweifungen –, wie stehen denn nun Liebe und Sehnsucht zueinander, wenn Liebe nicht der Sehnsucht Erfüllung sein kann, sie zudem weder Beistand noch Trost bietet, ja nicht einmal von ihr hervorgerufen wird? Das weiss ich nicht, meine Teuerste. Aber vielleicht stellen wir ja die Frage falsch. Vielleicht sind sie ja dasselbe. Vielleicht heissen wir unsere Sehnsucht nur Liebe, wenn uns bewusst wird, dass die Glut in uns noch nicht erkaltet ist. Liebe wäre also Ausdruck unserer Sehnsucht, wäre ihre Konkretisierung, ihre Fokussierung. Und Sehnsucht wäre kein Zeichen eines Mangels. Vielmehr würde das Fehlen von Sehnsucht die Absenz der Liebe anzeigen. Könnte das wohl sein?
There’s something in the air
And you don’t know what it is
You see someone through a window
Who you’ve just learned to miss
And the road leads on to glory but
You’ve used up your last wish
Your last wish
Aber gib Acht! Liest man das, könnte man auf die Idee verfallen, es gäbe einen Ausweg. Wenn wir nur vorsichtig genug sind. Das aber geht fehl. Die drei Wünsche, die uns gewährt werden (oder wie viele es immer auch seien), gewährt von einem Zauberer oder (eher wohl) von einer Zauberin, diese Wünsche sind immer schon aufgebraucht. So scheint es jedenfalls. Wir brauchen sie auf, in unserer Kindheit, unserer Jugend, für Nichtigkeiten. Hinterher wissen wir natürlich, wofür wir sie hätten aufsparen sollen. Und manche tun das auch. Sie sterben mit ihren Wünschen wohlverwahrt. Ohne auch nur einen einzigen davon eingelöst zu haben. Allein, das Ergebnis bleibt sich allemal gleich. Auch sie wissen erst hinterher, wofür sie ihre Wünsche hätten einsetzen sollen.
Wir hatten eben über die Gleichgültigkeit des Meeres und das Nebenher des Leides gesprochen und dabei behauptet, dass die Liebe in einem notwendigen Bezug zum Leid stehe, dass die beiden Zwillingsschwestern seien. Ich will das kurz ausführen.
Vorweg nochmals: Nein, das ist nicht darin begründet, dass Liebe zwingend unglücklich sein muss, sie immer Leid bereiten müsste, auch wenn sie es häufig tut. Es geht viel tiefer. Wie nämlich könntest Du wissen, dass es Liebe ist, nicht nur Zuneigung, Wohlwollen, Sympathie oder gar blosser Zeitvertreib und Vergnügen? Woran vermöchtest Du das zu erkennen? Natürlich an der Totalität, ihrem allumfassenden, alles durchdringenden Charakter, nicht? Einverstanden.
Was aber bedeutet das? Fühlst Du Dich nicht unvollständig ohne die Geliebte. Fehlt sie Dir nicht? Jede Sekunde? Obwohl sie in Dir ist, in jeder Faser, jedem Gedanken? Musst Du Dich nicht zusammenreissen, um sie nicht zu erdrücken? Sorgst Du Dich nicht um sie? Und weisst Du nicht, dass Deine Sorge bei Dir bleiben muss, weil jedes Wesen Fehler machen darf und muss. Weil es nichts zu beschützen gibt, nur zu helfen. Und auch dies nur, wenn Du gerufen wirst. Meist ist dieser Ruf stumm. Höchstens die Augen stöhnen, so laut sie eben können. Auch dies indes nur, solange wir noch an die Liebe glauben und hoffen (danach tragen selbst die Augen eine Rüstung). Totalität also ist selbst schmerzhaft. Natürlich.
Noch deutlicher aber wird die Verwandtschaft von Liebe und Leid dort, wo man Dich leiden macht, Dir weh tut. Wohlwollen, Sympathie, Zeitvertreib, Vergnügen verschwinden dann schnell. Nicht so die Liebe. Erträgst Du, dass Dich die Geliebte leiden macht? Natürlich. Mindert es Deine Liebe? Natürlich nicht. Im Gegenteil, Du wirst Entschuldigungen suchen (und natürlich auch finden), Du wirst eher Dir und Deiner Liebe die Schuld geben als ihr. Denn wir lieben im anderen nicht, was er ist, sondern was er sein könnte. Wir lieben seine Potentialität. Deshalb lässt die Liebe einen wachsen. Kaum etwas, was ein geliebter Mensch nicht erreichen kann, wenn wir, die ihn lieben, Kraft genug haben, nicht an ihm zu zweifeln, d.h. unserem Gefühl zu vertrauen statt unserem (stets zweifelnden und zögernden) Verstand.
Liebe ist also nicht nur unumgänglich, wenn wir dem Tod widerstehen wollen. Wir sind auch nicht angekommen, solange es nicht weh tut.
Wir hatten von Scarlattis Sonate K87 gesprochen und der irritierenden Erkenntnis, dass Leiden immer nebenher geschieht. Dass überhaupt Leid existiert, dass es sich nicht verhindern und kaum lindern lässt, ist schwer erträglich.
Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleiben lassen?
Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie – in: Apologie des Zufälligen. Philosophie Studien. Stuttgart: Reclam 1987, 17
Leid aber ist unsere einzige stabile und zuverlässig Verbindung mit der Welt, unsere einzige Gewissheit. Denn der Tod, der doch so gewiss und mächtig scheint, ist ein Schwächling, vermag nichts, aber gar nichts gegen die Liebe. (Deshalb unsere Verpflichtung zur Liebe, solange wir dem Leben nicht den Rücken kehren. Hören wir aber auf zu lieben, so sind wir bereits tot, auch wenn wir es nicht immer bemerken.) Auch ist der scheinbar so allmächtige Tod manchmal einfach nicht da, schläft oder ruht sich aus, oder ist anderweitig beschäftigt. Und in diesen seltenen und kurzen Momenten sind wir tatsächlich unsterblich. An sie erinnern wir uns ein ganzes Leben lang.
Leid aber ist immer da, lässt sich nicht besiegen, nur lindern, wenn überhaupt. Unsere einzige Alternative zum Tod ist die Liebe, in der Liebe aber ist der Schmerz zuhause. Liebe muss nicht notwendig unglücklich sein, häufig aber ist sie es, zumindest wenn sie gross ist, da sie so überhaupt nicht in unsere kleine Zwergenwelt passt. Nicht weil sie selbst unglücklich macht, sondern weil sie unsere Verletzlichkeit steigert, denn nicht nur wir selbst sind dem Schmerz zugänglich (dagegen haben wir im Verlaufe der Jahre gelernt, uns einigermassen zu wappnen), sondern auch und vor allem das Geliebte, hier aber sind wir macht- und wehrlos. Und wie viel schwerer als selbst zu leiden, ist es doch, das Geliebte leiden zu sehen (ja, ja, ich weiss: Brel. Kommt gleich). Dass aber das Leid eine Nebensache sein sollte, selbst das Leid unseres Geliebten, ist nicht wirklich zu ertragen.
liebesgedicht
gleichgültig bleibt dem meer
der fischer der darin ertrinkt
dessen frau und freunde
die unbestellten felder
wie der weizen der verdirbt
die fortan vaterlosen kinder
wie der schmerz der zurückbleibenden
ob der sterbende zu überleben sucht
sich seinem schicksal weich ergibt
oder stille tränen weint
seine dumpfe klage ebenso wie
stummes beten wuterfülltes schrei’n
ob der tod in scharfer mittagssonne
sich erhebt in neblichten morgenstunden
oder weichem abendlichte
gott liebt den sturm der stille
und das meer
Gibt es keinen Ausweg? Natürlich! Den Tod. Und die Liebe? Du hast doch gesagt, die Liebe vermag alles, sogar den Tod zu besiegen. Ist die Liebe ein Ausweg? Natürlich nicht! Liebe ist die siamesische Zwillings-Schwester des Schmerzes, sich einer zu verschliessen, heisst sich auch der anderen zu verschliessen (dazu ein anderes Mal). Wie konnte ich nur vergessen, was ich offenbar vor langer Zeit schon wusste.
Ach ja, der versprochene Hinweis: Jacques Brel, Voir un ami pleurer:
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