Ist es kindisch, wenn es mir besser geht, nur weil mein Computer wieder funktioniert, wie er sollte, das WLAN steht und das Internet fliegt? Wahrscheinlich. Aber offenbar bin ich recht kindisch. Und schäme mich nicht einmal wirklich dafür. Auch mein kleines, rotes Auto bereitet mir eine ganz unverhältnismässige Freude. Die sinnlichen Kleinigkeiten eben.
Einer meiner Lieblinge, Odo Marquard (*1928) hat das wunderbar beschrieben:
Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben und so fort; dadurch (durch diese kleinen Aufhalter im Sinne des Mini-Kat-Echon) kommen die Menschen – und das ist richtig so –, durch Pensen aufgehalten, ständig zu spät zum Rendez-vous mit dem absoluten Nein.
Odo Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung, in: Apologie des Zufälligen, Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 49.
Gerade dies aber, der kleinräumige, praktische Alltag, die Wiederholung, das Ersetzbare ist, was die Liebe nicht erträgt, die immer Schicksal ist, Katastrophe und Erlösung zugleich, die immer Rendez-vous ist mit dem Absoluten. In seinem Gedicht Heute formuliert das Jan Skácel (1922-1989) schön.Darin heisst es zum Schluss:
An einer Haltestelle
stehen wir beide allein und warten schon längst
nicht mehr auf Gottes Erbarmen bloss auf die Strassenbahn
Jan Skácel, Heute, in: Und nochmals die Liebe, Gedichte, Salzburg 1993
In diesem Spannungsfeld ist alles enthalten. Wer würde ein Leben wollen, das sich im Alltag erschöpft, in beherrsch- und vorhersehbarer Mechanik, wer würde Sinnlichkeit erstreben, die nicht mehr wäre als das? Stimmt schon: Nur Sinnlichkeit rettet uns vor der Verzweiflung. Indem sie uns zwingt, Äonen von Möglichkeiten, die unser Kopf, unser Herz, unsere Phantasie ersinnen, zugunsten einer Einzigen zu ermorden. Das ist das unabwendbar, unbeherrschbar Gewalttätige an und in ihr. Das uns erfasst und auffrisst, und wenn wir Glück haben, mit sich fortträgt. Das ist, was unsere bürgerliche Existenz zu Tode ängstigt und was sie deshalb mit allen Mitteln zu domestizieren und (weil das nicht möglich ist) zu eliminieren oder wenigstens zu vermeiden sucht. Der Konnex von Sinnlichkeit und Gewalt ist alles andere, als zufällig oder auch nur akzessorisch, sondern essentiell, kardinal. Sinnlichkeit ist Gewalt. Sie ist die Mörderin der Möglichkeiten, erbarmungslose Königin, strahlende Herrscherin, die mit einem Blick allein vernichtet, was ihre absolute Herrschaft auch nur in Frage stellt geschweige denn gefährdet.
Gleichzeitig aber ist diese Rettung vor dem Rendez-vous mit dem absoluten Nein immer nur eine vorübergehende, hebt sich auf im selben Moment, in dem sie gelingt. Ist flüchtig, ephemer und volatil. Dies ist der mystische Grund unserer durchgreifenden und nicht zu behebenden Trauer. Untröstlich sind wir. Immer und immer wieder. Und daher unersättlich. Post coïtum animal triste, aber nicht, weil wir müde wären, wie mancherorts behauptet wird (das sind wir wohl auch), sondern weil unser Weh nicht zu heilen ist. Und wir es erkennen. Weil wir nicht zu glauben vermögen, dass uns Gott verlassen hat. Dass wir alleine sind. Dass uns niemand beschützt hat. Damals. Und heute genauso.
Ich könnte hier eine Geschichte über das Meer anfügen. Und die Frauen. Aber es wäre nur eine Geschichte. Besser verständlich wird wohl, was ich meine, durch Sinnlichkeit selbst. G. F. Händels (1685-1759) Klaviersuite Nr. 7 g-moll, HWV 432, enthält als drittes Stück ein Allegro, das – richtig gespielt – einfach alles auffrisst, was sich in den Weg zu stellen wagt. Und wenn es endet, kann es gleich wieder beginnen. Richtig gespielt meint die Einspielung von Andrei Gavrilov (*1955). Im folgenden Video spielt er auf einem merkwürdig gestimmten, aber höchst sinnlichen Flügel. Sekundiert wird er von Sviatoslav Richter (1915-1997), dem nach Glenn Gould (1932-1982) wohl bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhundert. Das Video gibt die ganze Suite wieder, aber es setzt beim Allegro ein. Auf das Allegro folgt eine überaus zärtliche, fast gehauchte Sarabande, dann eine Gigue als Überleitung zur abschliessenden Passacaglia (leicht zu erkennen, welcher Teil des Liebesaktes das ist).
http://youtu.be/-3DEkPXDmJA?t=10m10s
Und für diejenigen, die kein Klavier mögen, als Alternative Aram Khatchaturians (1903-1978) Walzer aus der Masquerade Suite.
Ich lese so langsam als möglich, doch das wunderbare Buch geht unausweichlich zu Ende. Nicht aber, ohne uns in unserer Skepsis der Abstraktion gegenüber zu unterstützen. Spricht Winston Churchill:
“Mister Knott, es gehört eine ordentliche Portion Tapferkeit dazu, ein getreu gegenständliches Bild zu malen! Abstraktion ist nur Feigheit, ist ein Kniefall vor der Vergänglichkeit, ist ein Anerkennen der Sinnlosigkeit des ewigen Ablaufs von Ursache und Wirkung. Wir dürfen nicht gemeinsame Sache mit dem Geistlosen machen! Geist haben nur wir. Es gibt sonst niemanden im Universum, der sich das Unvorstellbare vorstellen kann. – Genug geredet, Mister Knott, genug gesehen, genug gehört! Packen wir zusammen! Gehen wir!”
Im Journalismus durchaus verbreitet: Der sog. «Lead-Stil». In Wikipedia steht dazu etwa: «Die Informationsschlagzeile soll beim Leser Aufmerksamkeit und Neugier wecken und den Nachrichtenkern enthalten. Der Untertitel soll einen Überblick über die einzelnen Bestandteile des Geschehens vermitteln.»
Wirklich eindrücklich, wie auf blick.ch diese Kunst des subtilen journalistischen Spannungsaufbaus bei maximaler Vermittlung von Informationen auch an den eiligen Medienkonsumenten gepflegt wird. Die Geschichte entwickelt so einen nahezu unwiderstehlichen Sog, wenn man sich plötzlich unversehens fragt: «Und was macht der Tiger?»
Was tust Du nachts um 2, wenn alle schlafen?
Wachst Du noch? Betrinkst Du Dich?
Träumst Du? Erwachst Du?
Trunken noch vom Traum?
Oder ertrinkst Du darin?
I awoke in a fever
The bedclothes were all soaked in sweat
She said ‘You’ve been having a nightmare
And it’s not over yet’
Kennst Du Jaroslav Seifert (1901-1986), den tschechischen Lyriker, der 1984 immerhin den Nobelpreis erhalten hat? Von Seifert gibt es ein wunderbares Gedicht, Der Regenschirm vom Piccadilly. Das Gedicht ist nicht lang (3 kleine Seiten), aber zu lang, als dass ich es hier im Volltext anführen könnte. Immerhin sei der Anfang wiedergegeben:
Wer mit der Liebe nicht ein noch aus weiß,
verliebe sich
Meinetwegen in die englische Königin.
Warum nicht!
Ihr Gesicht ist auf jeder Briefmarke
des altehrwürdigen Königreichs.
Sollte er sie jedoch
um ein Stelldichein im Hyde Park bitten,
kann er Gift darauf nehmen,
dass er vergeblich warten wird.
Wenn er aber nur ein bisschen vernünftig ist,
wird er sich klug zureden:
Ach ja, ich weiß schon,
Es regnet doch im Hyde Park heute.
aus: Jaroslav Seifert:
Im Spiegel hat er das Dunkel, Gedichte, Waldbrunn 1982
Ist das nicht schön? Und tröstlich! Gerade an einem Tag wie diesem. Die Königin wird wohl auch nicht kommen, wenn es derart neblig ist. Das kann man ja wirklich verstehen.
1 Nacht und 1 Tag und 1 Nacht habe ich geschlafen. Oder waren es zwei Jahre? Oder drei? Mehr oder minder am Stück. Und immer noch bin ich müde. Unsicher auf den Beinen. Taumelnd. Wackelig. Schwer sind meine Arme. Schwer meine Beine. Schwer mein Kopf. Und schwer mein Herz.
Wenn meine Seele müde ist, macht sie sich ganz klein, zieht sich zurück, versteckt sich und wird fast unsichtbar. In diesem Zustand versucht sie jeweils, die zu verletzen, die sie lieben. Nicht die anderen. Die bleiben bedeutungslos. Nur die sie lieben. Auch mich. Gerade mich. Ich liebe sie ja doch. Irgendwie. Sie schafft das eigentlich recht gut.
Auch das mit dem Verstecken. Ich verliere sie dann regelmässig. Weiss zwar, dass sie da sein muss, vermag sie aber nicht mehr zu finden. So winzig und unsichtbar, so unscheinbar und durchsichtig ist sie. Kaum zu unterscheiden von einem Schatten. Einem Blinzeln.
Wittgenstein weist darauf hin, dass es zwischen dem Sinn eines Satzes und seinem Gebrauch, zwischen dem Gehalt einer Regel und ihrer Anwendung keinen Unterschied gibt (noch geben kann), dass mithin ihr Gebrauch, ihre Verwendung bzw. Anwendung ihr Sinn, Bedeutung und Gehalt seien. Wenn man nämlich eine Differenz aufmacht zwischen sprachlichem oder normativem Sinn einerseits und dem tatsächlichem Gebrauch andererseits, dann kann man das Eine (Sinn, Bedeutung, Gehalt) ja nicht aus dem Anderen (Anwendung, Gebrauch) ableiten, sonst wäre die Differenz ja sinnlos. Das zielt, wie alles bei Wittgenstein, auf das Verhältnis von Sprache und Welt, und bringt all jene in Bedrängnis, die auf diese Differenz pochen (und mit ihnen nicht nur die klassische juristische Methodenlehre, sondern auch das klassische Rollenverständnis der Justiz), weil es sie zu Unmöglichem zwingt, namentlich den Sinn eines Satzes nur in ihm selbst, die Bedeutung einer Regeln nur in ihr selbst zu finden. Das kann deshalb nicht gelingen, weil eine Sinn- oder Bedeutungskonstruktion unabhängig vom Tatsächlichen gar nicht möglich ist. Selbst wenn man aber Sinn und Gehalt einer Regel oder die Bedeutung eines Satzes gänzlich ausblendet, kommt man zum selben Resultat.
1. Die Entscheidung, die Regel anzuwenden
Ganz egal nämlich, was eine Regel besagen mag, ganz egal also, was der Auslegende (oder die Auslegungstheorie) ihr für einen Sinn zuschreibt, alles hängt letztlich davon ab, ob man die Regel auf den konkreten Fall anwendet oder nicht. Selbst wenn nämlich der Gehalt der Regel ohne jeden Zweifel eindeutig erkennbar wäre, so hinge dennoch alles von der Frage ihrer Anwendung ab. Diese Entscheidung stellt die Lebensbedingung der Regel dar, ihren eigentlichen Kern und ihre Essenz qua Regel. Auch die traditionelle Auslegungslehre wird nicht bestreiten, dass alles an der Entscheidung hängt, die Regel auf einen konkreten Fall anzuwenden. Daran ändert sich auch nichts, wenn man – wie eben diese Position – die Frage der Regelanwendung von ihrer Interpretation und Auslegung abhängig macht. Denn selbst wenn man dem Regelanwender zugestehen wollte, dass er imstande wäre, den Gehalt der Regel aus sich selbst heraus, ohne Referenz auf Tatsächliches, zu erkennen, so bliebe seine Entscheidung, dieser Erkenntnis zu folgen oder nicht, eben doch jenseits des Normativen und notwendig im Bereich das Tatsächlichen, nämlich beim Regelanwender selbst. Denn über diese Entscheidung kann ja die Regel keine Vorschrift enthalten. Eine derartige Selbst-Referenz wäre gleichbedeutend damit, dass sich die Regel selbst anwendet. Sie wären quasi ihre eigenen Meta-Regeln.
Wendet sich aber eine Regel selbst an, so würden wir nicht von einer “Regel” sprechen, sondern eher von Mechanik: Ist es beispielsweise verboten, die Fenster zu öffnen, ist dies aber gar nicht möglich, etwa weil sie zugeschraubt sind, dann würden wir von demjenigen, der diese Fenster nicht öffnet, kaum sagen, er befolge eine Vorschrift. Dasselbe dürfte von physikalischen “Gesetzen” gelten: Wenn ein Körper vom Tisch fällt (statt davonzufliegen), dann würden wir nicht sagen, er “beachte” ein Naturgesetz. Physikalische “Gesetze” (also “Naturgesetze”) scheinen etwas anderes zu sein als Vorschriften, denen man folgen kann oder eben nicht. Oder anders ausgedrückt: Das Sollen muss sich vom Können unterscheiden. Das ergibt sich auch aus einer zweiten Überlegung.
2. Die Notwendigkeit des Ermessens
Damit wir etwas als “Regel” oder “Vorschrift” empfinden, muss ihm notwendig eine gewisse Unschärfe, ja gar Aleatorik anhaften (oder besser: innewohnen). Das wird deutlich, wenn wir die beiden Extremkonstellationen betrachten, in denen die “Regel” immer eingehalten wird bzw. nie.
Läuft etwas immer gleich ab, ohne Ausnahme und ohne Varianz, so sprechen wir typischerweise nicht davon, dass eine Regel befolgt wird. Oder würdest Du sagen: Die Sonne folgt einer Regel, wenn sie aufgeht? Folgt sie einer Vorschrift? Natürlich können wir die Regelmässigkeit beschreiben, die wir beobachten, die ständig gleiche Wiederholung. Umgekehrt würden wir aber auch nicht von einer Regel sprechen, wenn es zwischen dem Sollen (der Regel, der Vorschrift, unserer normativen Vorstellung) und dem Sein (dem beobachteten Faktischen) überhaupt keine Überschneidungen gibt, wenn also die Welt der Regel überhaupt nie entspricht. Findet dieses Sollen überhaupt keinen Widerhall im Sein, fällt uns der Gebrauch des Begriffes “Regel” schwer. Denn dort, wo es zwischen dem Normativen und dem Faktischen keine Berührungspunkte gibt, reden wir nicht von einer Regel (die etwa nicht eingehalten wird), sondern von einem Wunsch, einem Ziel, einer Idee, einem Begehren oder Ähnlichem.
Damit wir von einer Regel oder Vorschrift sprechen, müssen sich also Sein und Sollen teilweise überschneiden, sie dürfen sich aber nicht vollständig decken. In diesem Schnittbereich (und nur hier) kann die Frage nach der Regelanwendung überhaupt Sinn ergeben. Nur da also, wo Unschärfe besteht, gibt es Raum für eine Entscheidung. Mehr noch: Dieser Entscheidung kann notwendig nur vorläufige Gültigkeit zukommen. Die Frage also, ob eine Regel anzuwenden sei oder nicht, kannnicht endgültig beantwortet werden, sondern immer nurfür den einzelnen Fall und Moment. Regelanwendung muss mithin notwendig ein nicht endgültig Bestimmbares sein (und bleiben), die Frage, ob eine Regel anzuwenden sei oder nicht, muss notwendig eine nicht endgültig Beantwortbare sein (und bleiben).
3. Regeln als Transistoren?
Kann darüber, ob die “Regel” auf einen Sachverhalt anzuwenden sei oder nicht, kein Zweifel bestehen (wie das die klassische Methodenlehre wohl annimmt), dann ist ihre Anwendung oder Nicht-Anwendung im konkreten Fall immer richtig oder falsch. Und sie ist immer richtig oder falsch. Keine Graduierung oder Überlappung, keine Tönung oder Schattierung, sondern sich gegenseitig ausschliessende Alternativen. Sind aber Ausnahmen ausgeschlossen und besteht auch kein Raum für Ermessen, dann gibt es aber überhaupt nichts zu entscheiden. Es gilt schlicht anzuwenden. Zwischen dem, was sein sollte (normativ), und dem, was tatsächlich ist (deskriptiv) besteht keine Divergenz, sondern höchstens ein Vollzugsdefizit. Es handelt sich also bei dem, was angewendet oder nicht angewendet werden soll, nicht um eine Regel, sondern um Mechanik nach der Art eines Transistors: Der Strom fliesst oder er fliesst nicht. Und wie bei einer Maschine stellt sich die Frage nach richtig oder falsch einfach nicht, sie ist ganz sinnlos, fraglich ist vielmehr (und einzig), ob die Maschine funktioniert oder ob sie defekt ist. In einer solchen Konstellation braucht es keinen Regelanwender. Die Frage nach der Anwendung der Regel stellt sich ja nicht oder wird von der Regel selbst bereits beantwortet. Dafür benötigt man nicht Juristen, sondern Mechaniker. Notwendig ist keine Entscheidung, sondern eine Maschine.
Die Sprache selbst spiegelt diese Sachlage recht präzise: “Regelmässig” und “Regelmässigkeit” etwa meinen nicht ein Verhalten “gemäss einer Regel” im Sinne der Beachtung einer Vorschrift, sondern Gleichförmigkeit des Beobachteten, also Beschreibungen dessen, was wir wahrnehmen. Damit wir von einer Regel sprechen können, muss es möglich sein, dagegen zu verstossen, sich nicht daran zu halten. Bereits das Wort “Regel” selbst zeigt das an, denn das Lehnwort, das im Mittelalter ins Deutsche kommt, leitet sich vom lateinischen “regula” ab, das “Massstab, Richtschnur” meint. Ganz folgerichtig bezeichnet der Ausdruck “in der Regel” gerade keinen völlig gleichförmigen Ablauf, sondern etwas, das zwar häufig, mehrheitlich oder gar meist gleichförmig abläuft, aber eben gerade nicht immer und ausnahmslos. Das französische “en regle générale” ist dem durchaus analog.
4. Quantenphysik?
Eher denn als Transistor liesse sich die Regel wohl quantenphysikalisch begreifen, als eine Art Unschärferelation nach der Art von Schrödingers Katze. Man muss sie befolgen können, darf sie aber nicht immer befolgen müssen, d.h. muss sie auch nicht befolgen können. Es müssen mindestens zwei Möglichkeiten bestehen:
1. Es muss möglich sein, der Regel zu folgen. Unmögliches kann nicht Inhalt einer Regel sein.
2. Es muss möglich sein, der Regel nicht zu folgen. Wo keine Wahl besteht, ist kein Raum für das Sollen.
Weil aber nicht nur die Möglichkeit ihrer Nicht-Befolgung notwendig zum Begriff der Regel gehört, sondern diese Möglichkeit sich auch tatsächlich manifestieren muss, kann die Regel nichts Mechanisches sein, sondern stellt essentiell Potentialität dar. Wäre zweifelsfrei bestimmbar, ob eine Regel auf einen konkreten Fall anzuwenden ist oder nicht, so hätten wir es nicht mehr mit einer Regel zu tun, sondern mit Mechanik.
Was die Regel-Befolgung oder Regel-Anwendung betrifft, so haben wie das bereits angesprochen: Wenn eine Lampe nicht hell wird, wenn wir sie einschalten, dann ist das nicht richtig oder falsch, es zeigt nur an, dass sie nicht funktioniert. Einen solchen Sachverhalt beschreiben wir nicht als ein Nicht-Anwenden (oder gar Missachten) einer Regel. Es besteht für eine Beurteilung als richtig oder falsch gar kein Raum, weil zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was der Fall sein sollte, keine Entscheidung erfolgt. Die Welt ist, was sie ist. Zündet ein Motor nicht oder geht eine Lampe nicht an, so sind sie (wenn nicht andere Ursachen wirken) defekt und müssen repariert werden. Motor und Lampe verhalten sich nicht “falsch”, obwohl sie auch anders könnten. Es wird nichts entschieden. Der Sachverhalt präsentiert sich schlicht nicht so, wie wir es wünschen, weshalb wir ihn modifizieren müssen (so wir können).
Das aber, so wirst Du einwenden, betrifft die Frage danach, was eine Regel sei, die wir bereits diskutiert haben, namentlich dass eine Regel notwendig die Möglichkeit einer Entscheidung voraussetzt, ihr zu folgen oder dies eben nicht zu tun. Es sagt aber nichts darüber aus, ob der Gehalt der Regel zweifelsfrei ermittelt werden kann, ob also eindeutig eruierbar ist, ob die Regel anzuwenden ist. Lass uns, damit wir das beantworten können, ein Gedankenexperiment anstellen: Stellen wir uns eine Regel vor, bei der zum einen nicht nur Gehalt, Bedeutung und Sinn vollständig klar und unzweideutig wären, sondern zum anderen auch ihr korrekter Gebrauch. Es wäre also allemal klar und unzweifelhaft, ob sie auf einen (beliebigen) Sachverhalt anzuwenden wäre. Ihre Anwendung wäre also jederzeit zweifelsfrei entweder richtig oder falsch und auch als solche erkennbar. Ist aber zweifelsfrei, was die Regel besagt und ist zudem klar, dass sie anzuwenden ist, so besteht kein Raum für eine Entscheidung oder auch nur eine Überlegung. Missachtung der Regel ist in dieser Konstellation ganz genau dasselbe wie eine defekte Lampe. Es gilt nicht zu verstehen, auszulegen oder zu entscheiden. Es gilt schlicht anzuwenden, es gilt zu reparieren.
Akzeptiert man, dass eine Regel immer eine Entscheidung verlangt, dann ergibt sich: Kann der Gehalt einer Regel eindeutig ermittelt werden, so ist die Frage ihrer Anwendung nicht zweifelsfrei zu klären (liegt eine Ausnahme vor?). Können umgekehrt hinsichtlich der Anwendung der Regel (bzw. ihrer Ausnahmen) keine Zweifel bestehen, so muss ihr Gehalt mehrdeutig sein. Sind nämlich sowohl Gehalt als auch Anwendung eindeutig bestimmt (oder bestimmbar), so besteht überhaupt kein Bedarf einer Entscheidung, noch Raum dafür. Es handelt sich nicht um Regel und Regelanwendung.
5. Warum also Regeln?
Wenn (1) Regeln unausweichlich eine Entscheidung benötigen, sie anzuwenden, (2) diese Entscheidung aber nicht in der Regel enthalten sein kann, (3) ist der Regelanwender letztlich immer auf sich gestellt. Eigentlich könnte er also einfach autonom entscheiden, ohne Regel. Denn faktisch ist er ja mit seiner Entscheidung allein. Fraglich ist damit, warum es überhaupt Regeln braucht, warum der Entscheidende nicht einfach entscheidet. Eine Antwort darauf ist nicht ohne Weiteres evident.
Üblicherweise werden Regeln wohl als Möglichkeit verstanden, Klarheit zu schaffen, indem die zur Disposition stehenden Optionen reduziert werden. Wie eben dargelegt kann das eine Regel aber gar nicht bewirken, solange die Entscheidung über ihre Ausnahmen beim Entscheidenden bleibt. Dies wiederum ist unumgänglich, denn die Regel selbst kann es nicht regeln und wenn Ausnahmen völlig ausgeschlossen sind, handelt es sich nicht um eine Regel, gibt es nichts zu entscheiden. Eine Reduktion der zur Verfügung stehenden Optionen als scheinbar offensichtlichster Zweck von Regeln kann also nicht deren Existenzgrund darstellen. Wieso also benötigen wir Regeln? Sie können denjenigen, der über ihre Anwendung entscheidet nicht binden. Wir sind ihm ausgeliefert. Wieso also Regeln?
Vielleicht liegt die Antwort ja im Offensichtlichen: Wir müssen einer Regel folgen können, wir müssen ihr aber auch nicht folgen können. Regeln öffnen eine Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Können, Müssen, Sollen, drei der sechs Modalverben, die im Deutschen existieren (die anderen drei: Wollen, Mögen, Dürfen), sind in der Regel enthalten. Vielleicht liegt ja hier der geheimnisvolle Existenzgrund der Regel: in ihrem Modalcharakter. Aber was tun Modalverben eigentlich: Sie schaffen Parallelwelten zu unserer einen, einzigen, hier und jetzt sich präsentierenden Welt. Sie öffnen den Kosmos, sie potenzieren den Augenblick, der sich stets unserer Kontrolle entzieht. Sie schaffen im eigentlichen und besten Sinne gerade das Gegenteil von Klarheit: sie schaffen Unklarheit und Vagheit. Und damit erst die Möglichkeit von Kommunikation. Wir sind nicht mehr genötigt, uns gegenseitig zu töten. Nicht mehr auf Gedeih und Verderb der Entscheidung ausgeliefert, die ist, was sie ist. Und nur das. Die Regel schafft Freiheitsgrade, erschafft einen Raum der Vagheit, der Unschärfe, der Möglichkeit, in dem Diskussion möglich wird, in dem wir kommunizieren können.
Eigentlich müsste nun eine Diskussion der Modalverben als Quanten folgen, als Ermöglicher der Irritation von Systemen. Doch ist der Eintrag schon unerträglich lang. Zu den Modalverben also ein ander Mal. Und verzeih die Länge dieses Beitrags. Sie zeigt nur an, dass ich noch nicht ganz verstanden habe.
Intimität kommt etymologisch von lat. “intimus”, einer Bezeichnung für das Innerste, Geheimste, Vertrauteste, für dasjenige, das dem Rande am fernsten liegt. Man könnte deshalb meinen, und viele tun das wohl, sie wohne zwischen unseren Beinen. Aber das täuscht. Nicht unsere Geschlechtsteile (unsere Scham) sind unser Geheimstes, sondern unsere Ängste. Sie wohnen in jenem Zimmer in Blaubarts Schloss, das allezeit gut verschlossen bleibt und zu dem wir den gut versteckten Schlüssel niemals freiwillig herausgeben. Wenn Du einen Menschen verstehen willst, verstehen willst, was er ist, was er tut, musst Du seine Angst spüren. Ich hatte erst “musst Du seine Angst verstehen” geschrieben, aber das ist nicht wahr. Es gibt nichts zu verstehen, nur hinzunehmen. Angst ist nicht begründet oder unbegründet, sie ist. Angst ist wie die Menschen, die sie haben, nicht richtig oder falsch. Die Menschen und ihre Angst sind, was sie sind. Und wenn Du einen Menschen lieben willst, musst Du auch seine Angst lieben (vielleicht sogar vor allem seine Angst, aber da bin ich mir sicher). Einen Menschen anzunehmen, bedeutet vor allem, sein Angst anzunehmen, ohne Urteil und Vorbehalt. Unsere Ängste definieren uns. Mehr noch als unsere Hoffnungen und Träume.
Aber warum bloss?, fragst Du mit gutem Grund. Das weiss ich natürlich auch nicht, aber vielleicht hilft uns das Folgende weiter: “Alles, was in diesem Leben geschieht, geschieht aus Angst vor Schmerz” hatte Axel Corti für seine Verfilmung der Erzählung “Die blassblaue Frauenhandschrift” von Franz Werfel (1890-1945) angemerkt. So ist es wohl. Unsere Ängste sind unser Intimstes, weil sie etwas noch viel Grösseres, Geheimeres, Persönlicheres, Vertrauteres anzeigen, das dahinter oder darunter liegt: Unseren Schmerz. Der aber bleibt unsagbar, unaussprechlich, und muss es allemal bleiben.
Ein ganz wunderbares Stück von einem, der das Leben und die Frauen liebte und doch an ihnen verzweifelte, dem vielleicht grössten Lyriker neuerer Zeit, Heinrich Heine (1797-1856).
Anfangs wollt’ ich fast verzagen
Und ich glaubt’, ich trüg es nie,
Und ich hab es doch getragen,
Aber frag mich nur nicht: wie?
Der Herr drückte dem Diener die Hände und kehrte die Augäpfel nach oben und betete laut: “Lass meinen Freund leben, bitte, bitte, lass meinen Freund leben!” Als der Diener aus tiefem, langem Schlaf erwachte und über den Berg war, sass der Herr immer noch an seinem Bett, und nun hielt er die Hände seines Herrn fest und sagt, das Wort – “Freund” – sei es gewesen, das ihm die Kraft gegeben habe zu überleben. Später formten sie gemeinsam aus diesem Augenblick eine Szene. Für einen Sprechfilm. Manche Wort machen die Schöpfung nicht kleiner.
Ist das nicht unglaublich präzise und wahr? Manche Worte machen die Schöpfung nicht kleiner. Nur manche, die meisten aber tun es. Denn der Weg der Wahrheit ist ein Weg des Schweigens.
Wenn ein Auto ins Schlingern gerät, gibt es einen bestimmten Punkt, bis zu welchem seine Bewegung noch zu kontrollieren, noch zu korrigieren ist. Danach entwickelt sich eine Eigendynamik, die sich stetig verstärkt. Wie in einer gelungenen Tragödie kann man dann die Katastrophe kommen sehen. Unausweichlich und folgerichtig. Genau so ist es mit unserem Leben. Weil wir aber die Katastrophe als unausweichlich erkennen, lange bevor sie eintritt, scheint uns der Weg dahin quälend langsam, wie in Zeitlupe. Auch dies nicht wirklich anders in unserem Leben.
Nicht nur die Liebe, auch die Wahrheit ist ein mörderisches Ding, so sich die beiden denn überhaupt unterscheiden lassen. Cioran (1911-1995) sagt irgendwann einmal (ich mag das nicht heraussuchen):
Die Erkenntnis der Wahrheit gibt einem das Aussehen eines Mörders.
Tatsächlich. Das liegt wohl daran, dass uns die Erkenntnis der Wahrheit immer zeigt, dass wir nichts zu verlieren haben, da wir doch schon alles verloren haben. Niemand kann uns mehr beschützen, niemand trösten. Dafür ist es längst zu spät. (Das ist wohl der Grund, dass Rainer Mailkowski (1939-2003), einer meiner liebsten Lyriker, sagen kann: “Es gibt nichts zu beschützen”). Es bleibt nur das Vergessen, vielleicht das Schwierigste. Denn uns quält eine diffuse Erinnerung an das Paradies, die (wohl zu unserem Glück, aber da bin ich mir nicht sicher) immer schwächer wird und sich in der Zeit verliert (wie wir selbst) bis sie schliesslich erlöscht (wie wir selbst).
Und noch was sehr, sehr Hübsches. Tom Waits und “All the World is Green”
I fell into the ocean
When you became my wife
I risked it all aganist the sea
To have a better life
Marie you’re the wild blue sky
And men do foolish things
You turn kings into beggars
And beggars into kings
Hier der Song in einer eindrücklichen Verfilmung. Und hier der Text mit Erläuterungen. Hättest Du gedacht, dass hier Georg Büchners (1813-1837) Drama Woyzeck vertont wird, eines der ganz grossen Theaterstücke der Weltliteratur, in dem Woyzeck erst seine Geliebte Marie tötet und hernach sich selbst. Warum wohl, ach, mein Herz?
Ja, die Liebe, die Liebe ist ein höchst gefährliches, ein seltsam mörderisches Tier. Nimm Dich bloss in Acht.
Ist es nicht seltsam, dass gerade die Verletzlichsten (und vielleicht auch die Verletztesten) sich die grösste Mühe geben, nicht verletzlich, nicht verletzt zu erscheinen und ihre Verletzungen bestmöglich zu verbergen suchen, ganz so, als vermöchte deren Leugnung sie tatsächlich zu schützen.
Aber vielleicht tut es das ja. Indem es verhindert, dass zum bereits bestehenden Leid noch das Bewusstsein (oder noch schlimmer: die Kommunikation darüber) hinzukommen. Denn – nochmals – der Weg der Wahrheit ist ein Weg der Stille, wo zärtliches Gespräch nur ein Hinterhalt von Räubern ist und selbst gute Musik schockierend fehl am Platz; und Du, natürlich, hast mir das nie gesagt. (W. H. Auden) Dass damit die Wunden zu eitern und modern beginnen und nicht heilen können, ist kleine Münze im Verhältnis zur Angst vor weiteren Verletzungen.
Jeder kann kommentieren. Verlangt wird zwar die Angabe einer Mail-Adresse und eines Namens, doch können beide fiktiv sein. Über diese Angaben hinaus ist uns eine Identifikation nicht möglich.
Kommentare werden deshalb erst nach unserem OK freigeschaltet. Es erfolgt natürlich keinerlei inhaltliche Kontrolle.
Nicht-öffentliche Kommunikation ist über das nachstehende Formular möglich. Eine Identifikation des Absenders ist uns nicht möglich. Nicht-öffentliche Antwort kommt auf die Mail-Adresse, die Du eingibst.
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