Zeit der Zauberer

Ein ganz wunderbares Buch über ein Jahrzehnt Philosophie und seine geistigen Orientierungsgrössen: Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein. Die Seiten 92-95 erhellen mehr Wittgenstein als manches Buch. Mehr als empfehlenswert.

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das grosse Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929, Stuttgart: Klett-Cotta 2018.

Gottesbeweis

Könnte ein Mensch sich je sowas ausdenken? Wenn das kein Beweis für die Existenz Gottes ist, dann gibt es keinen.


Aufklärung, Atheismus und Rousseaus Freiheitsfeindlichkeit

Und wenn wir schon dabei sind: Wer sich für die Herkunft unserer Gesellschaft interessiert, findet mehr als genügend Anschauungsstoff in Philipp Bloms Buch “Böse Philosophen”. Es handelt vom Salon des Barons von Holbach im 18. Jahrhundert in Paris und es treten auf: Holbachs Freund Denis Diderot, David Hume, Voltaire, Cesare Beccaria und viele mehr, und natürlich der unvermeidliche Jean-Jacques Rousseau. Für alle, die Rousseau lieben, wohl das falsche Buch, belegt es doch detailreich, warum sich seit Robespierre alle totalitär Orientierten, alle Diktatoren mit Freude auf den Schweizer bezogen haben. Wie gross das Unglück ist, dass sich Rousseau als Held durchgesetzt hat, wird überdeutlich spürbar in diesem wunderbaren Buch.

Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Carl Hanser Verlag 2011. 

Staaten und ihre Gründung

Wer sich für die Frage interessiert, was denn einen Staat ausmacht, erhält zwar keine theoretische Antwort, aber ein gutes Anschauungsbeispiel und einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der “Baierischen Räterepublik”, November 1918 bis April 1919, im Buch von Volker Weidermann über den Versuch, der Dichter und Träumer in der Welt zu sein. Vielleicht weckt es ja sogar die Lust, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke oder Thomas Mann wiederzulesen:

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 2017.

 

Verdorben

“Once I tried to have a lover but I was so sick at the heart, so utterly worn out that I had to send him away.” That struck me as the most amazing thing I had ever heard. She said “I was actually in a man’s arms. Such a nice chap! Such a dear fellow! And I was saying to myself, fiercely, hissing it between my teeth, as they say in novels—and really clenching them together: I was saying to myself: ‘Now, I’m in for it and I’ll really have a good time for once in my life—for once in my life!’ It was in the dark, in a carriage, coming back from a hunt ball. Eleven miles we had to drive! And then suddenly the bitterness of the endless poverty, of the endless acting–it fell on me like a blight, it spoilt everything. Yes, I had to realize that I had been spoilt for the good time when it came.

Ford Madox Ford, The Good Soldier, London 1915

Was bleibt…

Ich dachte, ein neues Leben wäre leichter, aber es wurde nie leichter. Es ist ganz gleich, ob wir Apotheker oder Tischler oder Schriftsteller sind. Die Regeln sind immer ein wenig anders, aber die Fremdheit bleibt und die Einsamkeit und alles andere auch.

F. v. Schirach. Strafe

… wie Frauen eben sterben im Krieg

Die Söldner waren hungriger als üblich, und sie hatten noch mehr getrunken. Lange schon hatten sie keine Stadt betreten, die ihnen so viel bot. Die alte Luise, die tief geschlafen und diesmal keine Vorahnung gehabt hatte, starb in ihrem Bett. Der Pfarrer starb, als er sich schützend vors Kirchenportal stellte. Lise Schoch starb, als sie versuchte, Goldmünzen zu verstecken, der Bäcker und der Schmied und der alte Lembke und Moritz Blatt und die meisten anderen Männer starben, als sie versuchten, ihre Frauen zu schützen, und die Frauen starben, wie Frauen eben sterben im Krieg.

Daniel Kehlmann: Tyll, Rowohlt 2017, 27 f.

In memoriam Dr. K. H. G.

“Hölderlin ist Ihnen unbekannt?”, fragte Dr. K. H. G., während er die Grube für den Pferdekadaver aushob.
“Wer war das?”, fragte der deutsche Wächter.
“Der den Hyperion geschrieben hat. Die grösste Gestalt der deutschen Romantik”, erklärte Dr. K. H. G. Er liebte es sehr, zu erklären. “Und zum Beispiel Heine?”
“Was sind das für welche?”, fragte der Wächter.
“Dichter”, sagte Dr. K. H. G.. “Aber Schillers Namen werden Sie wohl kennen?”
“Doch, den kenne ich”, sagte der deutsche Wächter.
“Und Rilke?”
“Den auch”, sagte der deutsche Wächter und wurde puterrot und erschoss Dr. K. H. G.

aus: István Örkény: Minutennovellen, BS 1358, Frankfurt/M 2002, 38

Autodafé als Protest gegen Bücherverbot

Auch lustig

http://www.openculture.com/2017/04/argentine-artist-is-creating-a-parthenon-made-of-100000-banned-books.html

Die Künstlerin baut einen Parthenon aus 100’000 verbotenen Büchern. Die Bücher werden dabei natürlich zerstört. Die Künstlerin zerstört also mit ihrem Kunstwerk genau die Bücher, gegen deren Unterdrückung sie protestieren möchte. Leuchtet ein.

Ein wahrhaftiges Monument der Demokratie und geistigen Freiheit.

Kindheit

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.

Heimito von Doderer, Ein Mord den jeder begeht, 2008 [1938], 5.

Potenzialität und Wirklichkeit

Ich wählte ihre Handynummer. “Jetti, wo bist Du?”
“In Prag bin ich, im Hotel. Wo bist du?”
“Ich bin in München, auch im Hotel. Ich würde gern bei dir sein.”
“Ich würde auch gern bei dir sein.”
“Es war eine grosse Liebe.”
“Es war eine grosse Liebe.
Die Rettung fuhr draussen vorbei. Jetti und ich, keine hundert Meter voneinander entfernt, hörten das Martinshorn auf der Strasse und im Hörer.
“Wenn wir beide zu Hause wären”, sagte ich, “dann würde ich zu dir kommen.”
“Das wäre schön.”, sagte Jetti.

Michael Köhlmeier, Die schöne Jetti,
Erzählung aus:  Nachts um eins am Telefon, Wien 2005