In der Strafkolonie

Im Leiden der Kreatur wurde der Prozess angesprochen, bei dem wir alleine durch unser Beobachten Teil werden dieses Leidens. Wenn wir empathisch sind, empfinden wir ihr Leiden nach, aber – infolge unseres kalten Beobachterstatus – werden wir in gewissem Sinne zu Pornographen. Wenn wir dieses Leiden nicht enden oder wenigstens mildern können, werden wir deshalb wohl (trotz unserer Empathie, die eben gerade nichts auszurichten vermag, sinnlos erscheint), Teil des Leidenzufügenden, Teil der Strafe und Teil des Bösen. Dies wohl der tiefere Grund für unsere Verantwortung angesichts des Leidens. Nichts bringt das besser auf den Punkt als die fürchterlich-furchterregende Erzählung “In der Strafkolonie” von Franz Kafka (1893-1924). Kafka in seiner genialen Sensibilität lässt den unbeteiligten Wissenschaftler die fürchterliche Geschichte erzählen, der am Ende auch einfach abreist.

Die Geschichte hier online, hier als PDF zum Download.

Das Leiden der Kreatur

Frank Fournier schoss das Foto der 13jährigen Omayra Sanchez, das um die Welt ging, im Jahr 1985. Mehr zur Geschichte des Fotos hier.

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Das Mädchen ist am Sterben, rettungslos verloren. Und wir – wie auch der Photograph – dazu verdammt, das hinzunehmen, es mitzuerleiden. Hier geschieht also genau dasselbe wie jeden Tag, immer wieder. Genau so wie wir das Leiden selbst erleben und auch bei anderen kennen und erkennen. Anders ist hier nur, dass der Tod absehbar ist, greifbar, nahe, unerträglich nahe. Merkwürdig, nicht, wie alleine die Verkürzung der Dauer des Prozesses die Sache selbst fundamental verändert. Was an sich schon problematisch ist, die Theodizee, wird in der Verkürzung zu einem Skandalon. Wie kann irgendein Gott so etwas zulassen?

Uns bliebe einzig wegzusehen. Aber gerade das ändert nichts am Ablauf, nichts an unserem Wissen und unserer Verbundenheit mit Omayra, nichts am Skandal unserer Existenz, wenn Kinder so sterben müssen, nichts an unserer Verantwortung, und nichts an unserer Schuld. Denn auch dies bleibt ein Geheimnis: Dass wir zweifellos schuldig werden, obwohl wir nichts tun können. Vielleicht gar, weil wir nichts tun können. Alleine das Wissen um eine leidende Kreatur lässt uns Teil werden ihres Leidens. Dies denn dürfte wohl auch ein Grund sein, dass Diktaturen Folterungen und Hinrichtungen nicht selten öffentlich zelebrieren (besonders eindrücklich etwa bei Otto Dov Kulka, Landschaften der Metropole des Terrors, München 2013, 67 ff., aber auch in der von ihm zitierten Strafkolonie Franz Kafkas).

Und diese Schuld beschränkt sich nicht auf Menschen. Kürzlich etwa habe ich, nachts über Land fahrend, beinahe einen Fuchs überrollt, der offenbar kurz zuvor überfahren worden war, so dass seine Bauchhöhle geplatzt war und seine Eingeweide auf der Strasse vor ihm (und vor mir) lagen. Ich spürte seinen Schmerz auf meiner Haut. Und während ich diese keineswegs eingebildete, sondern tatsächliche, körperliche Empfindung auf der Haut und in meinem Bauch spürte, fragte ich mich, ob das krank oder ungesund, ob ich hypersensibel oder neurotisch sei. Doch wäre das wohl zu einfach, auch wenn ich natürlich zugebe, dass Kranken häufig scheint, sie seien gesund.