by Filifjonka | Sep 28, 2014
Selbst an unvermuteter Stelle (Heimito von Doderer ist nicht meine primäre Referenz) findet man Belege für das (meist negierte oder jedenfalls immunisierte) Offensichtliche:
Jedweder kleinste Hergang, wenn man ihn betrachtet, wird befremdlich und steht in neuem Licht, hält man seine Einmaligkeit sich vor Augen — daß nichts wiederkommt, diese Bedeutung kann auch das Bedeutungsloseste für sich in Anspruch nehmen, ebenso wie dies dem wirklich bedeutenden Vorgang erst seinen schmerzhaft-dunklen Hintergrund ganz verleiht — aber
dies führt schon zu weit; gleichwohl, denke: deine Hand auf dem Wirtshaustisch, dort und dort, vor drei Jahren; oder dein Fuß vorgestern, auf dem Waldpfad. —
H. v. Doderer: Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel. Variation V, zu finden in: Doderer, Die Erzählungen, 4. Auflage, München: Beck 2006.
by Filifjonka | Sep 23, 2014
Sagt Wolf Singer im Spiegel (29/2014 vom 14. Juli 2014. S. 38):
SPIEGEL:Verbrecher sind also krank, aber keine schlechten Menschen. Wozu brauchen wir dann das Strafrecht?
Singer: Die Definition von Krankheit würde eine sehr gründliche Diskussion erfordern. Um unser Gesellschaftssystem stabil zu halten, sind Sanktionen bei der Verletzung von Normen unverzichtbar, unabhängig davon, wie weit unser Verständnis der Ursachen von Fehlverhalten reicht. Fest steht: Irgendetwas muss im Gehirn von Straftätern anders sein als bei Menschen, die sich regelkonform verhalten können, denn Verhaltensdispositionen beruhen auf neuronalen Prozessen.
Was belegt: Man kann sehr gescheit, sehr berühmt, und sehr fachkundig sein in einem bestimmten Bereich und dennoch völligen Unsinn erzählen. Gesagt wird doch, dass sich Straftäter nicht regelkonform verhalten können und Nicht-Straftäter schon. Richtig?
Aber erstens sind erhebliche Teile der (jedenfalls männlichen) Bevölkerung “Straftäter” in dem Sinn, dass sie manchmal Straftaten begehen. Was, so wäre zu fragen, ist also ein Straftäter. Denn dass “Nicht-Straftäter” nur ausnahmsweise Straftaten begehen, kann ja nicht entscheidend sein, da auch “Straftäter” sich weit über 99% ihrer Zeit regelkonform verhalten. Selbst besessene Mörder und Vergewaltiger tun die meiste Zeit nichts Böses.
Zweitens unterstellt die Unterscheidung von “Straftätern” und “Nicht-Straftäter” danach, ob die Person sich regelkonform verhalten kann, dass regelkonformes Verhalten von diesen Personen gewollt sei, und zwar grundsätzlich und stets. Denn nur im Bereich des Wollens ergibt das Können überhaupt Sinn. Nur dort, wo ich eine Regel einhalten möchte, dies aber nicht schaffe, ergibt die Rede vom “nicht regelkonform verhalten können” überhaupt Sinn. Will ich die Regel nicht einhalten, erscheint eine Umschreibung als “Nicht-Können” zumindest merkwürdig (wenn auch völlig selbstverständlich für eine Position, die die Möglichkeit des Wollens ohnehin negiert). Viel gravierender aber ist, dass Regelkonformität selbst bei den Konformen praktisch nie wirklich gewollt ist. Meistens halten wir uns Regeln, weil wir keinen Grund haben, uns nicht daran zu halten. Ich etwa habe noch nie jemanden umgebracht. Doch liegt das wohl weniger daran, dass ich (im Gegensatz zu anderen, die das nicht schaffen) das Tötungsverbot oder gar das Gesetz respektiere, als an der Tatsache, dass ich einfach keinen Grund hatte, jemanden zu töten, kein Begehren, ja nicht einmal einen schwachen Wunsch.
Wollte man dem folgen, dann würden alle Delikte, die ich begehen könnte, aber noch nie begangen habe, belegen, dass ich mich regelkonform verhalten kann. Dasselbe aber würde auch für einen Straftäter gelten, denn die potentiell begehbaren (aber nicht begangenen) Delikte sind selbst bei Gewohnheitsverbrechern gegenüber den tatsächlich begangenen immer in erdrückender Überzahl. Selbst schlimmste Verbrecher sind kleine Spiesser.
by Filifjonka | Sep 17, 2014
“Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches im Unähnlichen wahrzunehmen”, sagt Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969, gestorben übrigens im schweizerischen Visp), einer der Heroen der Frankfurter Schule und einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, in den Minima Moralia (Frankfurt 1951, 362). Das Zitat wird überall wiederholt, wenn auch meist ohne Angabe seiner genauen Herkunft (aber vielleicht muss man ja auch nicht mehr wissen als “Adorno”). Ich war nie sonderlich Freund Adornos, zu politisch, zu gestelzt. Zu intellektuell und reflektiert, hätte ich beinahe gesagt, aber das trifft es natürlich nicht. Wir lieben Intellekt und Reflexion. Natürlich. Darum geht es hier ja dauernd. Eigentlich nur darum. Nein, das ist es nicht. Was ich meine, ist eher: “zu abstrakt”.
Adorno schreibt zwar auch in den Minima Moralia gescheite Dinge über die Liebe. Etwa:
Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Abstraktheit in der Liebe ist das Komplement der Ausschließlichkeit, die trügerisch als das Gegenteil, als das sich Anklammern an dies eine so Seiende in Erscheinung tritt. (140)
Oder
Wie Liebe unabdingbar das Allgemeine ans Besondere verrät, in dem allein jenem Ehre widerfährt, so wendet tödlich nun das Allgemeine als Autonomie des Nächsten sich gegen sie. (308) … Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet. (309)
Aber das ist nicht selten ein bisschen falsch, oder jedenfalls ein wenig kindlich. Denn natürlich kann kein Geliebtes Besitz werden (und schon gar nicht “ganz”). Immer ist es nur “geliehen” oder “geschenkt”. Immer auf Zeit. Immer fragil. Immer entfliehend. Deshalb sind die Sekunden mit dem Geliebten so wertvoll, so kostbar, immer ungenügend. Dies macht denn auch den Schmerz aus, der der Liebe innewohnt, ihren Kern, vergleichbar dem Inneren der Sonne, ein Fusionsofen, der alles schmelzen lässt und sich selbst dabei verzehrt.
Vieles mag die Liebe sein, aber die Entdeckung des Ähnlichen im Unähnlichen wohl kaum. Die Phrase gehört eher in ein Poesie-Album (was wohl auch der Grund sein dürfte für die grosse Verbreitung der Phrase). Kindliche, oberflächliche Verliebtheit kennzeichnet sich dergestalt. Im Bestreben, mit dem Geliebten verbunden zu sein, suchten wir überall nach Gemeinsamkeiten zwischen dem Objekt unserer Liebe und uns selbst. Gerade dies aber tut die Liebe nicht. Vielmehr erkennt und konstituiert sie das Geliebte als Einzigartiges, Unvergleichliches, Unersetzliches. Und jeder Versuch, dieses Einmalige in Bezug zu setzen zu Anderem, es zu verknüpfen mit Etwas, und sei es auch nur mit uns selbst oder unserer Liebe, vernichtet es notwendig und unumkehrbar als Absolutes, zerstört also gerade das, was wir begehren.
Und deshalb bleibt der Liebe letztlich nur, das Geliebte aus der Ferne zu begehren, zu bewundern, zu schützen so gut es eben geht (muss ich an die Bibel der Liebe, Gustave Flauberts Éducation sentimentale, erinnern?). Kommt sie ihm aber nahe, so frisst sie es auf mit Haut und Haar, verschmilzt mit ihm, indem sie es verschlingt und damit vernichtet (Heinrich von Kleists Penthesilea bleibt die Referenz).
by Epipur | Aug 11, 2014
Skorpion
24.10. – 22.11.
Montag, 11. August 2014
Heute ist ein ereignisreicher Tag, der durchwegs positive Erlebnisse mit sich bringt. Besonders im Zusammenhang mit Menschen haben Sie nun eine glückliche Hand: Sie gehen offen auf Leute zu und machen auf diese Weise interessante Bekanntschaften. Genießen Sie das Leben und lassen Sie alles auf sich zukommen, was das Schicksal Ihnen heute beschert.
(Quelle: www.20min.ch)
Es ist mir kürzlich aufgefallen, dass Horoskope und Gesetze eigentlich schrecklich ähnlich sind.
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Gemeinsam haben sie, dass sie nicht nur etwas Bestimmtes sagen wollen, sondern gleichzeitig auch alles Andere.
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Paradox: eine Leerformel enthält viel mehr als man denkt. Dies ist natürlich nicht nichts.
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“Ein ereignisreicher Tag, der durchwegs positive Erlebnisse mit sich bringt”, das klingt ähnlich wie im positiven Recht: “[der Beauftragte] haftet dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäftes.”(Art. 398 Abs. 2 OR) oder “Der Führer muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann.” (Art. 31 Abs. 1 SVG).
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Je allgemeiner desto besser, denn jeder kann sich darunter seine eigene Situation vorstellen, der Jurist würde sagen “subsumieren”.
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“Rechtsfähig ist jedermann.” (Art. 11 Abs. 1 ZGB)
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Richtig (sei es vorhergesehen oder vorgeschrieben) ist jeweils das, was in die Formel passt. Was passt in die Formel? Genau das, was richtig ist (dumme Frage!).
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“[…] lassen Sie alles auf sich zukommen, was das Schicksal Ihnen heute beschert.” Wie wenn ich etwas anders machen könnte!
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Das Horoskop findet auf alle Lebensfragen Anwendung, für die es nach Phantasie oder Verrücktheit eine Aussage enthält.
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“Wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, kann das Geleistete nur dann zurückfordern, wenn er nachzuweisen vermag, dass er sich über die Schuldpflicht im Irrtum befunden hat.” (Art. 63 Abs. 1 OR) Was aber könnte das Adjektiv “freiwillig” meinen, wenn es nicht voraussetzt, dass man bezahlen will, was seinerseits voraussetzt, dass man weiss, was man bezahlt. Gemäss Art. 63 I OR kann also, wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, sein Geld zurückfordern, sofern er beweisen kann, dass er sie unfreiwillig bezahlt hat.
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“Besonders im Zusammenhang mit Menschen haben Sie nun eine glückliche Hand: Sie gehen offen auf Leute zu und machen auf diese Weise interessante Bekanntschaften.” Wenn ich einem Menschen begegne, gebe ich ihm oft die Hand. So unwahrscheinlich und merkwürdig es auch sein mag, ist es mir doch schon passier, dass ich dabei eine interessante Bekanntschaft gemacht habe. Es ist genau das, was man die “glückliche Hand” benennt.
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“Der Einkommenssteuer unterliegen alle wiederkehrenden und einmaligen Einkünfte.” (Art. 16 Abs. 1 DGB) Was genau als Einkünfte zählen soll, weiss keiner so genau. Auch ob Einkünfte weder wiederkehrend noch einmalig sein können, bleibt natürlich offen.
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Falsch ist eine Auslegung eigentlich nie, ausser wenn sie falsch ist, was ziemlich selten vorkommt.
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Die Kunst des Horoskop- wie des Gesetzgebers ist es, einen Text zu verfassen, den man praktisch beliebig verstehen kann, der aber gleichzeitig erlaubt, das eigene Verständnis als das einzigmögliche darzustellen.
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Jeder hat so viel Macht, wie er lesen kann.
by Filifjonka | Aug 9, 2014
Ist es nicht verstörend, dass es – wenn man genau hinschaut – gar keine Antworten im eigentlichen Sinn gibt. Ausser vielleicht auf die wenigen Fragen, die sich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten lassen. Und auch hier nicht wirklich.
by Filifjonka | Aug 9, 2014
Cogito ergo sum, hatte Descartes (1596-1650) formuliert. Das ist etwas ungenau, weil es sich auf die Frage des Denkens konzentriert und diejenige der Identität ausblendet. Schaut man genau hin, so müsste man eigentlich sagen: Es denkt etwas, also ist etwas. Die Identität desjenigen, das denkt, ist nämlich gar nicht klar.
Denken wird zwar häufig als eine Art Instrument konzipiert, zur Problemlösung oder Analyse oder anderen Zwecken, doch scheint mir das grundfalsch. Nichts könnte den Charakter des Denkens stärker verkennen als eine Konzeption, die das Denken auf Ziele und Zwecke hin orientiert. Denken nämlich ist in seiner Struktur dem Sex eng verwandt. Es gibt kein Ziel, keinen Zweck, keinen richtigen Weg, keine Anleitung. Beide verlangen von Dir Hingabe, Abenteuerlust und den Mut, Dich selbst nicht nur zu öffnen, sondern auch zu zeigen. Beide sind Wagnisse, denn Du weisst nicht, wo Du hinkommst. Und Du kannst nicht zurück. Beängstigend. Hinreissend.
Wer das Denken zulässt, hat auch überhaupt keine Kontrolle darüber. Nicht wann, wo, wie, wie lange oder wohin. Du kannst nur die Türe aufmachen oder schliessen. Wenn man sich in der Welt umschaut, könnte man auf die Idee verfallen, dass wir diese Türe ganz vorsichtig auch nur einen kleinen Spalt weit öffnen können, um so das Risiko, unser Ausgesetzt-Sein zu beschränken. Aber das ist natürlich Humbug. Was da nach Denken aussieht, ist blosses Getue, reines Theater. Es hat mit Denken so wenig zu tun, wie Eisenbahnfahren mit Schwimmen. Wer in der Bahn fährt, bewegt sich entlang bestimmter, genau definierter Linien. Er hat eine Richtung und nur an gewissen Punkten überhaupt die Möglichkeit, sie zu ändern. Wer schwimmt, bestimmt (zumindest konkludent) jede einzelne Sekunde diese Richtung neu, ist gänzlich ohne Halt und Vorgaben, und zudem jederzeit in Gefahr zu ertrinken.
Denken ist ein eigentlich vegetativer Vorgang. So wie unser Herz schlägt oder unser Magen verdaut, so denkt es ständig in uns. Meist bemerken wir es nicht einmal, nur manchmal nehmen wir es wahr. Unter Kontrolle aber haben wir es nicht. Denken ist wie Schwimmen im offenen Meer. Denken ist ein Orkan, ein Tsunami. Kein Wunder, versuchen die meisten Menschen, das zu vermeiden (oder ihm zu entkommen, wenn sie unglücklicherweise damit in Berührung kommen). Sie sind darin beeindruckend erfolgreich.
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