M. müsste lügen, wenn er behaupten wollte, dass er Mitleid mit den Opfern empfunden hätte; es ist schlimmer gewesen. Ihr Anblick habe ihn gewürgt. Dieses Gefühl erfasste den ganzen Körper, unwillkürlich und ohne Besinnung. Vor Ekel konnte er tagelang nichts mehr essen, und ganz hat ihn dieser Ekel nicht mehr verlassen.
Eine solche vormoralische Reaktion ist stärker als das vage Schuldgefühl, das man empfindet, weil man in eine Gesellschaft von Mördern hineingeboren wurde. Der Ekel ist eine asoziale Empfindung, frei von jeder nationalen oder intelligiblen Bestimmung; er schliesst den mit ein. Den er überwältigt, einfach deshalb, weil er derselben Spezies angehört.
Die Folgen dieses Schocks hielten lange an. M. konnte damals keinen Arzt mehr aufsuchen, ohne sich Gewissheit über sein Vorleben verschafft zu haben. Ebenso begegnete er jedem Richter, jedem Polizeibeamten und jedem Professor, der einer bestimmten Altersgruppe angehörte, mit einem chronischen Misstrauen. Dieser Argwohn erwies sich, wie nicht anders zu erwarten, in vielen Fällen als begründet. Je weiter er aber seine Nachforschungen trieb, je mehr Bücher er las und sich in Dokumentationen vertiefte, desto mehr drohte die Vergangenheit ihm zur Obsession zu werden. Erst nach geraumer Zeit ist ihm aufgegangen, dass er ganz ohne eigenes Zutun, auf nichts als auf glückliche Zufälle gestützt, immerzu auf die bessere, die richtige Seite geraten war. Zur Tatzeit war er einfach nicht alt genug, um in das Verbrechen verwickelt zu sein.
H. M. Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum, Berlin 2018, 160 f.
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