Die Lernerfolge solcher Pädagogen ließen viel zu wünschen übrig. Aber die sogenannte Bildung ist ja nie der Hauptzweck der Schule gewesen. Das zeigt sich schon daran, dass der Lehrkörner bis heute drei oder vier Jahre damit zubringt, den Kindern Lesen und Schreiben, Addieren und Multiplizieren beizubringen. Fertigkeiten, die sich jedes normale Kind mühelos innerhalb von sechs Wochen aneignen kann. Der lange Zwangsaufenthalt in der Schule dient vielmehr dazu, die Grundregeln der Politik einzuüben, das Erproben von Machtverhältnissen, Intrigen, wechselnden Bündnissen, Kriegslisten und Kompromissen.
In diesem Zusammenhang nimmt das Wort Klassenkampf eine ganz andere Bedeutung an. Die mit ernster Miene ausgetragenen Auseinandersetzungen der Berufspolitiker erinnern jeden Aussenstehenden, der ein gutes Gedächtnis hat, an die Jahre, die er im Kindergarten oder in der Elementarschule zubrachte.
Insofern verfehlt die Kritik an den Lehrern den Kern der Sache. Die meisten dieser überforderten und bedauernswerten Leute ahnten ja kaum etwas von der Gruppendynamik unter den ihnen Anvertrauten, also von den entscheidenden Motiven der Sozialisation. Mit der Vermittlung ihrer bescheidenen Lehrstoffe beschäftigt und in chronischer Überschätzung ihrer Pädagogik wussten sie ebensowenig wie die Eltern von den grausamen und subtilen Prozessen, die sich Tag für Tag unter ihren Augen abspielten, und diese berufsbedingte Blindheit verlieh ihnen eine Art Unschuld, die selbst den übelsten unter ihnen kaum abzusprechen war.
H. M. Enzensberger, EIne Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum, Berlin 2018, 124 f.
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