Staatsanwalt Sierlin

Obwohl nur mässig begabt, nahm er doch seinen Weg: durch nur halb genossene Studien- und arbeitsreiche Referendar- und Assessoren-Jahre, durch alle – mehr oder weniger genügend – bestandenen Examina, bis er sich zu seiner jetzigen Stellung als zweiter Staatsanwalt an einem der Landgerichte der Hauptstadt emporgeschwungen.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 21

Versprechen, ach, Versprechen

Queste promesse che gli uomini, paurosi l’uno dell’altro, si scambiano in una carta più o meno solenne sono come le promesse di eterna fedeltà nell’amore: valgono finché valgono, rebus sic stantibus, finché la natura, la passione, la follia non prendono il sopravvento.

 

Diese Versprechen, die sich Menschen, aus Angst voreinander, mehr oder weniger feierlich auf Papier geben, sind wie die Versprechen der ewigen Treue in der Liebe: Sie sind gültig, solange sie gültig sind, rebus sic stantibus, bis die Natur, die Leidenschaft oder der Wahnsinn überhand nehmen.

Salvatore Satta, Il mistero del processo, Milano: Adelphi 2007

Rechtschreibreform: Orthographie

Wusstest Du, dass Orthographie nach Duden «Orthografie» geschrieben wird. Diese Schreibweise wird «empfohlen», Orthographie hingegen ist als «alternative Schreibung» bezeichnet.

Was müsste man mehr wissen, über die heutige Welt, wo Verwaltungsmenschen (ich sage nicht Lehrer, denn es sind nicht die Lehrer, sondern die Lehr-Verwalter) die Sprache formen wollen und eine Rechtschreibungsreform durchsetzen, die den Ungebildeten und Dummen entgegenkommen will, indem sie sich auf die Logik beruft und «Stengel» neu «Stängel» schreiben will, weil das Wort ja von «Stange» herkomme.

Achte Dich einmal: Alle Worte, die von Ungebildeten verwendet werden, will der Duden nicht mehr mit PH schreiben, sondern mit F, also z.B. Delfin oder Fotografie.«Philosophie» hingegen wird von dieser Gruppe offenbar selten verwendet und darf daher mit PH geschrieben werden und es gibt nicht einmal eine «alternative Schreibung».

Und «Orthografie»? Offenbar sind die Ungebildeten gewohnt, «grafie» zu schreiben, doch will man ihnen die Schwierigkeit des TH in «Ortho» nicht ersparen. Wie einsichtig. Die Hälfte bleibt griechisch, die andere wird deutsch-phonetisch. Da lobe ich mir doch das Italienische, das alles phonetisch schreibt.

Der Sinn des Lebens

Fädeln wir viele Kirschenpaprika auf, entsteht ein Paprikakranz.

Fädeln wir sie hingegen nicht auf, entsteht kein Kranz aus ihnen.

Dabei sind die Paprika ebenso viele, ebenso rot, eben stark. Und doch sind die kein Kranz.

Machte es nur der Faden? Der Faden macht es nicht. Dieser Faden ist, wie wir wissen, nebensächlich, drittrangig.

Was ist es dann?

Wer darüber nachdenkt und darauf achtet, dass seine Gedanken nicht durcheinanderschwirren, sondern die richtige Richtung einschlagen, kann grossen Wahrheiten auf die Spur kommen.

Istvan Örkeny, Der Sinn des Lebens, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auf., 135.

Weltende

Wie bekannt, wird übermorgen, am Dienstag, dem ersten Februar, um 17 Uhr 45, die Welt untergehen. Unmittelbar danach findet das Jüngste Gericht statt.

Die zuständige Abteilung beim Rat der Hauptstadt ersucht die Einwohnerschaft, Panik zu vermeiden. Andererseits ist jede Ungeduld überflüssig, da jeder ohne Ausnahme an die Reihe kommt.

Verkehrseinschränkungen grösseren Umfangs werden nicht erforderlich sein, doch wird der Burgtunnel wegen eventueller Einsturzgefahr um 15 Uhr gesperrt. Von dieser Zeit an werden die Autobusse 4, 5 und 56 nicht über die Kettenbrücke, sondern über die Elisabeth-Brücke fahren.

Züge, Schiffe und Autobusse verkehren fahrplanmässig; vom Vigadó-Platz aus geht sogar ein letzter Ausflugsdampfer; er wird bei genügender Beteiligung als beflaggter Katafalk in die malerischen Gebiete des Eisernen Tores und des Schwarzen Meeres hinunterfahren.

Allen jenen, die um eine Verlängerung ihres Lebens ansuchen wollen, geben wir bereits jetzt bekannt, dass ihr Verlangen nicht erfüllt werden kann. Auch werdende Mütter und Neugeborene bilden keine Ausnahme; einige beklagen sich allerdings mit Recht darüber, da sie gerade übermorgen um 17 Uhr 45 auf die Welt kommen sollen und infolgedessen ein enorm kurzes Leben haben werden.

Dagegen haben alle jene ein besonderes Glück, die zu diesem Zeitpunkt sowieso verscheiden würden. Sie lachen sich jetzt eins ins Fäustchen.

Istvan Örkeny, Hinweise und Verkehrseinschränkungen in Verbindung mit den Ereignissegen am 1. Februar, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auf., 126 f.