Spute Dich! Das Leben vergeht rasend schnell

Das nächste Dorf

Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß — von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen — schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“

Franz Kafka. Aus: Ein Landarzt, Leipzig 1919

Warum Touristen Auschwitz wie den Eiffelturm besuchen

Es ist nicht so lange her, vielleicht erinnern Sie sich noch. Vor etwa drei Jahren habe ich an dieser Stelle über eine Postkarte aus Auschwitz berichtet.

Damals war Ironie der einzige Weg, meine Empörung auszudrücken. Wie können Touristen Auschwitz in genau derselben Art und Weise besuchen wie den Eiffelturm? Wie kann man in Birkenau sorg- und schamlos in der Sonne liegen?

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Eine mögliche Antwort findet man im Buch Wir Eichmannsöhne: offener Brief an Klaus Eichmann von Günther Anders:

“Was hat das ‘Monströse’ möglich gemacht? […] Wie und wodurch kann es da zum ‘Monströsen’ kommen?

Antwort: dadurch, dass unsere Welt, obwohl von uns selbst erfunden und errichtet, durch den Triumph der Technik so ungeheuer geworden ist, dass sie aufgehört hat, in einem psychologisch verifizierbaren Sinne wirklich noch ‘unsere’ zu sein. Dass sie uns ‘zuviel’ geworden ist. Und was heisst das wieder?

Erst einmal, dass dasjenige, was wir nun machen können (und was wir deshalb wirklich machen) grösser ist als dasjenige, wovon wir uns ein Bild machen können ; dass sich zwischen unserer Fähigkeit der Herstellung und der der Vorstellung eine Kluft aufgetan hat, und dass sich diese von Tag zu Tag verbreitert ; dass unsere Kapazität der Herstellung, da der Steigerung der technischen Leistungen keine Grenze gesetzt, masslos, die unser Vorstellung von Natur aus beschränkt ist. Einfacher ausgedrückt: dass die Objekte, die wir heute mit Hilfe unserer uneindämmbaren Technik zu erzeugen gewohnt sind, und die Wirkungen, die wir auszulösen imstande sind, nun so gross und so brisant sind, dass wir sie nicht mehr auffassen, geschweige denn als unsere eigenen identifizieren können. – Und natürlich ist es nicht nur die übermässige Grösse unserer Leistungen, die unsere Vorstellungskraft überfordert, sondern auch die grenzenlose Vermittlung unserer Arbeitsprozesse. Sobald wir dazu angestellt werden, einen der zahllosen Einzelhandgriffe, aus denen sich der Produktionsprozess zusammensetzt, durchzuführen, dann verlieren wir nicht nur das Interesse am Mechanismus als ganzem und an dessen Letzteffekten, vielmehr sind wir dann auch der Fähigkeit beraubt, uns davon ein Bild zu machen. Ist ein maximaler Grad von Inndirektheit überschritten – und in der heutigen industriellen geschäftlichen und administrativen Arbeit ist das der Normalfall – dann versagen wir, nein, dann wissen wir noch nicht einmal, dass wir versagen, dass es unsere Aufgabe wäre, uns vorzustellen, was wir tun.”

Günther ANDERS, Wir Eichmannsöhne : offener Brief an Klaus Eichmann,  3. Aufl. , C.H. Beck, München 2002 (1964), S. 24 f.

Die Kluft von der Anders spricht, hat nicht nur einen Völkermord vor mehr als 50 Jahren erlaubt, sondern existiert auch heute noch.

Man kann sie überall beobachten, wenn man gut genug hinschaut. Sie nimmt unerwartete Formen an, bleibt aber bestehen und verbreitet sich allmählich.

Sei es Technik, Abstraktion, Medialität oder Indirektheit, wir verlieren unsere Einsicht, wir erkennen unsere Realität nicht mehr.

Was damals in Auschwitz passiert ist, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Vor dieser Kluft aber soll man sich aber nicht hinlegen und aufgeben, sondern hinschauen und immer wieder versuchen, zu verstehen.

Prognosen

Lakai: Es ist wahrlich nicht richtig, dass der gnädige Herr nicht auf die Gesundheit des gnädigen Herrn achtet.

Turai: Ich? Auf meine Gesundheit?

Lakai: Ja. Im Aschenbecher in der Bibliothek fand ich wenigstens fünfzig Zigarettenstummel.

Turai: Das stimmt nicht. Es waren genau siebenunddreissig.

Lakai: Auch das sind viele.

Turai: Und wie viele rauchen Sie?

Lakai: Fünfzehn.

Turai: Sie werden lange leben.

Lakai: Danke, Herr Professor.

Turai: Ich bin kein Professor.

Lakai: Nur, weil Sie sagen, ich werde lange leben…

Turai: Das wünsche ich Ihnen nur, mein Lieber.

Lakai: Danke, gnädiger Herr. Ich möchte weinen, gnädiger Herr.

Turai: Warum?

Lakai: In der heutigen, eigensüchtigen Welt ein solch goldiger Mensch wie der gnädige Herr. Wie Sie alles interessiert!

F.  Molnar, Spiel im Schloss

Das Gewissen der Monster

In the world’s younger days, when magic and religion held sway, it was plausible that monsters might have consciences. Not any more. The world had moved on, become more scientific, more practical, less under the sway of the old superstitions. And tyrants had moved on as well. Perhaps conscience no longer had an evolutionary function, and so had been bred out.

Julian Barnes: The Noise of Time, London 2016, 164

Erfahrung

In jungen Jahren teilt sich die Welt, grob gesprochen, in Menschen, die schon Sex hatten, und solche, die noch keinen hatten. Später dann in Menschen, die Liebe erlebt haben, und solche, die das noch nicht haben. Noch später – jedenfalls dann, wenn wir Glück haben (oder auch nicht) – teilt sich die Welt in Menschen, die Leid erfahren haben, und solche, die das nicht haben. Diese Einteilungen sind absolut; es sind Wendekreise, die wir überschreiten.

Julian Barnes, Lebensstufen (orig. Levels of Life), Kiepenheuer & Witsch, 2013