by Filifjonka | Nov 5, 2014
Nicht nur die Liebe, auch die Wahrheit ist ein mörderisches Ding, so sich die beiden denn überhaupt unterscheiden lassen. Cioran (1911-1995) sagt irgendwann einmal (ich mag das nicht heraussuchen):
Die Erkenntnis der Wahrheit gibt einem das Aussehen eines Mörders.
Tatsächlich. Das liegt wohl daran, dass uns die Erkenntnis der Wahrheit immer zeigt, dass wir nichts zu verlieren haben, da wir doch schon alles verloren haben. Niemand kann uns mehr beschützen, niemand trösten. Dafür ist es längst zu spät. (Das ist wohl der Grund, dass Rainer Mailkowski (1939-2003), einer meiner liebsten Lyriker, sagen kann: “Es gibt nichts zu beschützen”). Es bleibt nur das Vergessen, vielleicht das Schwierigste. Denn uns quält eine diffuse Erinnerung an das Paradies, die (wohl zu unserem Glück, aber da bin ich mir nicht sicher) immer schwächer wird und sich in der Zeit verliert (wie wir selbst) bis sie schliesslich erlöscht (wie wir selbst).
Die Welt heisst Rosebud.
by Lektürlich | Nov 1, 2014
Einer der vielleicht besten Texte überhaupt zur Frage von Kontrolle bzw. Beeinflussung der Zukunft, zur Frage also von Sicherheit und Prävention stammt nicht von einem Wissenschaftler, sondern (wie könnte es anders sein) von einem Schriftsteller. Es handelt sich um einen der letzten Texte von Mark Twain (1835-1910), nämlich die Erzählung (genauer gesagt: den unvollendet gebliebenen letzten Versuch eines Romans) “Ein geheimnisvoller Fremder” (The Mysterious Stranger), im Wesentlichen ein Gespräch zwischen ein paar Jungen und Satan. Alleine schon die Publikationsgeschichte ist ein Krimi für sich und es existieren verschiedene Versionen. Doch wurde Besseres zur Frage von Kontingenz, Zufall, Schicksal und unserer lächerlichen Hilflosigkeit nie geschrieben.
Der Text findet sich (englisch) vollständig online hier. Wer ihn herunterladen möchte auf einem e-Reader findet Formate hier.
by Filifjonka | Oct 22, 2014
Ich hatte Dir bereits von den “Zwei Herren am Strand” und ihren Problemen mit der Traurigkeit erzählt (ich lese das so langsam als möglich, damit es dauere). Eine ganz wunderbare Passage ist darin:
Sydney war sehr erleichtert. Die Funken im Auge seines Bruders gaben beruhigende Auskunft. Er hatte keinen Zweifel, Charlie hatte die Krise überwunden.
Am zweiten Feiertag fuhren sie nach Beverly Hills zurück. Singend. Erst dreistimmig, und nachdem sie die Serpentinen hinter sich gelassen hatten, vierstimmig. Der Chauffeur, so stellte sich heraus, war ein mehr als passabler Tenor. Er solle sich in den nächsten Tagen im Studio melden, sagte Charlie, als sie am Summit Drive ankamen; nur
ein guter Sänger könne auch stumm singen. Syd half ihm, die Koffer hinaufzutragen. Ob er es allein im Haus aushalte, fragte er, ob er sicher sei, ganz sicher. Aber ja, lachte Charlie.
In der Nacht aber meldete sich der schwarze Hund zurück. Nicht Hohn und Häme bellte er. Er bellte gar nicht. Er stellte sich vor ihn hin und starrte auf ihn nieder.
Kann man es besser beschreiben? Auch bei wiederholter Lektüre bereitet es mir grosse Mühe, beim letzten Abschnitt nicht zu weinen. Meist erfolglos übrigens. Die Mühe. Und das Weinen auch.
by Filifjonka | Oct 5, 2014
Der Tod wohne in uns, hatte ich gesagt, und dabei ganz vergessen, das schönste Gedicht hierzu auch nur zu erwähnen. Das sei hier nachgeholt: Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder, 2. vermehrte Auflage 1906 (der Volltext findet sich hier), gemeint ist das “Schlußstück”:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
by Filifjonka | Oct 4, 2014
Eine wahrhaftige Entdeckung habe ich zu vermelden. Michael Köhlmeier (*1949), den ich – zu meiner Schande muss ich es gestehen – bisher überhaupt nicht kannte, hat einen Roman geschrieben über die (tatsächlich verbürgte) Freundschaft zwischen Charlie Chaplin (1889-1977) und Winston Churchill (1874-1965). Ein herrliches Buch. Die beiden, die nicht viel gemeinsam haben, treffen sich per Zufall und werden Freunde. Sie sprechen dabei, beide von schweren Depressionen geplagt, v.a. über die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich zu töten. Es finden sich hinreissende Passagen in dem Buch. Etwa, wenn der Vater des Autors seinem Sohn erklärt, wie man mit Traurigkeit umgehen soll:
Wenn ein Mensch sehr traurig ist, sagte er, sei es ratsam, dass er sich von sich selbst ablenke. Es gebe einige Begabte, denen gelinge es, so zu tun, als wären sie ein anderer; sie schauen sich selber an, schütteln den Kopf über sich selbst oder nicken beifällig, sie nehmen sich ernst, aber nicht allzu ernst; auf diese Weise gelinge es ihnen, ohne Schaden über die Traurigkeit hinwegzukommen. Die meisten Menschen aber sähen immer und überall in sich selbst nur sich selbst, was ja auch kein Wunder sei, sei man selbst ja man selbst. Diese könnten nicht so tun, als wären sie ein anderer, ihnen bleibe nichts anderes übrig, als so zu tun, als wäre ein anderer sie. Und das sei gar nicht so schwer. Am besten gelinge das, wenn man das Leben eines anderen nacherzähle. Churchill habe das Leben des 1. Duke of Marlborough nacherzählt, er erzähle das Leben Churchills nach.
Oder wenn das Kindermädchen mit Charlie Chaplin spricht:
»Für Menschen, wie wir welche sind«, sagte sie, »ist kein Glück reserviert. Weißt du, Kirschäuglein, das Schönste, was dem Menschen geschenkt werden kann, ist die Gnade. Und es ist das einzige zugleich. Alles andere ist Leckerei, die gleich weggeputzt ist. Wenn Leute reich sind, ist bewiesen, dass ihnen die Gnade geschenkt wurde. Wenn sie schön sind und schön bleiben über ihr Leben und sich alle zwei Jahre einen flotten Anzug kaufen können und in einem Restaurant nicht erst auf die rechte Seite der Speisekarte schielen, bevor sie bestellen, dann sind sie in der Gunst der Gnade. Und nun schau mich an und schau deine Mama an. Und schau dich an. Wie sehen wir aus? Und noch etwas musst du wissen, du bist ja dünn wie eine Hunder: Was einer werden kann, das ist er schon. Was willst du einmal werden ?«
Ja, ja. Was einer werden kann, das ist er schon. Wie weise doch Kindermädchen sein können. Unsere Potentialität definiert uns. Dies ist wohl auch der Grund, dass der Tod in uns wohnt.
Oder, nur dieses eine Beispiel noch, wenn Churchill ins Internat kommt und das lateinische Wort “mensa” deklinieren lernen soll, aber dabei erstmals auf den Vokativ trifft, der ihn verstört:
Was O Tisch! bedeutete, wusste er nicht.
»Es ist der Vokativ«, erklärte ihm der Direktor. »Du weißt also nicht, was der Vokativ ist?«
»Nein.«
»Man benützt den Vokativ in einem Gespräch mit dem Tisch. Wenn du mit dem Tisch sprichst oder ihn anrufst, zum Beispiel: O Tisch, bleib stehen! Dann musst du den Vokativ verwenden.«
»Aber ich spreche nicht mit Tischen«, sagte er, »und schon gar nicht, wenn sie sich bewegen.«
»O doch!«, beharrte der Direktor. »Wenn du die lateinische Deklination lernen willst, musst du dich auch herablassen und mit einem Tisch sprechen, und erst recht, wenn er sich bewegt.«
»Das will ich aber nicht.«
»Du musst! In dieser Schule musst du!«
“Zwei Herren am Strand” heisst das herrliche Buch, das dieses Jahr bei Hanser erschienen ist.
by Epipur | Sep 29, 2014
MADEMOISELLE ANDRIOT
J’ai toujours senti qu’il n’y avait aucun pont, aucun langage commun, rien de commun entre un être qui ne souffrait pas et moi: les êtres qui ne souffrent pas sont pour moi des fantômes.
Henry de Montherlant, Celles qu’on prend dans ses bras, in: Théâtre complet, Gallimard – La Pléiade, p. 812.
***
Je souffre, tu souffres, il souffre. Nous nous comprenons.
Letzte Kommentare