Wünsche, erfüllt und unerfüllt

Schwieriger ist es für uns, ihr anmutigen Damen, zu erkennen, was uns gut tut. Denn während viele, die der Meinung waren, wenn sie reich wären, würden sie sorgenlos und ruhig leben, und die nicht allein Gott inbrünstig um Erreichung dieses Zieles baten, sondern auch keine Mühen und Gefahren fürchteten, um zu ihm zu gelangen, fanden, wenn ihre Wünsche gewährt würden, wegen ihrer Erbschaft Mörder in denen, die ihr Leben beschützten und sie liebten, bevor sie reich wurden. Andere bahnten sich aus dem niederen Stande, in dem sie geboren wurden, durch tausend gefährliche Schlachten und durch das Blut ihrer Brüder und Freunde den Weg zu der Höhe des Thrones, in der sie das höchste Glück zu finden wähnten, und mussten, ungerechnet unendliche Furcht und Sorgen, von denen sie sich umgeben sahen, in ihrem eigenen Tode erkennen, dass man an königlichen Tafeln aus goldenen Bechern Gift trinkt. Nicht gering ist ferner die Zahl derjenigen, die körperliche Kraft und Schönheit, wie andere Schmuck und Tand, mit dem heftigsten Verlangen für sich begehrten und die Verkehrtheit ihres Wunsches nicht eher erkannten, als bis jene Dingen ihnen den Tod oder schwere Betrübnis gebracht hatten.

Giovanni Boccaccio: Der Decamerone, übersetzt von Heinrich Conrad, 2. Tag 7. Geschichte, Berlin: Propyläen o.J., Bd. 2, 175 f.

Je nach der Perspektive, aus der wir sie betrachten, sehen die Dinge nicht nur anders aus (das scheint geradezu eine Binsenweisheit), vielmehr sind sie tatsächlich etwas anderes. Nur unsere, vom 18. Jahrhundert herstammende, stets auf Objektivität bedachte Grundannahme, unser nimmer erlahmendes Begehren nach einer von uns unabhängigen Wirklichkeit, nach einer einheitlichen, objektiv zu erfassenden Realität, fügt diese divergierenden, differierenden, sich widersprechenden und höchst unterschiedlichen Perspektiven zur Identität “der” Sache zusammen, verbindet also und verknüpft Unterschiedlichstes zu Einem. Und dass wir zumindest die Bedeutung der verschiedenen Perspektiven anerkennen können, liegt wohl primär in der – seit der Renaissance sich entwickelnden – Optik begründet.

Dass die Dinge aber andere sind, je nach der Perspektive, aus der wir sie betrachten (alle übrigen Perspektiven sind ja letztlich Konstruktion und damit Konvention), umschreibt das eigentliche Problem noch nicht einmal annähernd, denn hier stehen wesentlich nur verschiedene Aussenperspektiven gegeneinander. Hier liesse sich wohl ein Konsens noch finden, hier lässt sich verhandeln. Die tatsächliche Katastrophe unserer Erkenntnis liegt im Wechsel von Aussen- und Innenperspektive begründet, also darin, dass die Dinge nicht nur andere werden, je nach der Perspektive ihrer Betrachtung, sondern sie überhaupt aufhören, Dinge zu sein, sobald wir sie nicht mehr nur betrachten, sondern sie empfinden bzw. sie leben. In der Innenperspektive nämlich werden die Dinge Teil unserer Selbst, und wir können zu ihnen (genau so wenig wie zu uns selbst) auch nur minimal Distanz aufbauen, um sie von Aussen zu betrachten, ohne dass wir damit notwendig und unumgänglich unser Eigenes, ja unser Ureigenstes verlieren. Denn natürlich können wir uns von Aussen betrachten. Natürlich können wir von uns selbst reden, denken oder schreiben, wie von etwas ganz Fernem, von uns Unterschiedenem und Unterscheidendem. Natürlich können wir uns als “Welt” betrachten. Nur sind wir eben dieses Ferne, von uns zu Unterscheidende nicht. Zu uns “als Welt” haben wir dieselbe unüberbrückbare, von Sehnsucht geprägte Distanz wie zu allen anderen Aspekten der Welt.

Und so, wie sie unseren Schmerz nicht spürt, so spüren wir den ihren nicht. Soweit wir ihn aber spüren, sind wir mit der Welt so eng verbunden, sind wir so sehr Teil von ihr geworden, dass unsere Existenz als Individuum unerträglich wird. Auch ohne diese Auflösung des Individuums allerdings begründet die Differenz von Aussen- und Innenperspektive erhebliche Risiken, und sei es nur – was Boccaccio ja letztlich anspricht – dass wir uns gut überlegen sollten, wonach wir streben und was wir uns wünschen, denn möglicherweise bekommen wir es ja: Be careful what you wish for, you might get it. Dann aber ist es notwendig zu etwas anderem mutiert.

Regen. Nochmals

Die Näherin

Seit dem morgen regnet es. Die von gegenüber wird beerdigt. eine näherin. sie träumte vom trauring und starb mit dem fingerhut am finger. Alle lachen darüber. Der brave regen flickt himmel und erde zusammen. Aber auch daraus wird nichts.

Aus: Zbigniew Herbert: Inschrift, BS 384, Suhrkamp: Frankfurt 1973, 165

Ach ja, Manchmal, ganz selten, kann Regen auch etwas Schönes sein, etwas Weiches, Poetisches und Versöhnliches. Auch dann aber ist er zumindest melancholisch und eigentlich traurig. Meist aber ist er nur abweisend und feindlich. Ich erinnere mich an “Hundert Jahre Einsamkeit”, wo es einmal drei Jahre lang nicht aufhört zu regnen. Mir ist, als lebte ich das Buch.

Cioran

Au détour d’une bibliothèque, j’ai découvert les œuvres complètes d’Émile Cioran (1911-1995), écrivain roumain s’étant installé à Paris après avoir soutenu une thèse sur Bergson et avoir poursuivi ses recherches à Berlin.

De nos jours, Cioran, qui a d’ailleurs refusé plusieurs distinctions littéraires , n’est plus guère lu que par une poignée de curieux – en témoigne la carte d’emprunt vierge de toute date – qui y trouvent un goût pour l’absurde et l’ironie qui ne sont pas sans rappeler les textes d’un certain Eugène Ionesco. Scepticisme, pessimisme se mêlent à l’auto-dérision pour former une vague d’aphorismes détonants.

Je ne résiste pas à l’envie d’en partager certains avec vous…

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Un ouvrage est fini quand on ne peut plus l’améliorer bien qu’on le sache insuffisant et incomplet. On est tellement excédé, qu’on n’a plus le courage d’y ajouter une seule virgule, fût-elle indispensable. Ce qui décide du degré d’achèvement d’une œuvre, ce n’est nullement une exigence d’art ou de vérité, c’est la fatigue et, plus encore, le dégoût. (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Pléiade, p. 771)

Toute œuvre est inachevée en ce sens qu’elle est imparfaite, toujours en devenir. Elle ne trouve une fin, tout comme la vie, que grâce à une force majeure ou au dégoût de sa propre existence.

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Est libre celui qui a discerné l’inanité de tous les points de vue, et libéré celui qui en a tiré les conséquences. (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, p. 803)

La connaissance n’est pas possible, et, si même elle l’était, elle ne résoudrait rien. Telle est la position du douteur. Que veut-il, que cherche-t-il dont ? Ni lui ni personne ne le saura jamais.

Le scepticisme est l’ivresse de l’impasse. (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, p. 820)

N’a de convictions que celui qui n’a rien approfondi. (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, p. 838)

La connaissance n’est pas une pensée en soi, c’est une méta-pensée, une conviction attachée à une autre pensée qui en présume la vérité. Il s’agit d’une simplification réductrice qui ne tient que tant que l’on ne regarde pas la réalité de trop près.

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Pourquoi broder sur ce qui exclut le commentaire ? Un texte expliqué n’est plus un texte. On vit avec une idée, on ne la désarticule pas ; on lutte avec elle, on n’en décrit pas les étapes. L’histoire de la philosophie est la négation de la philosophie. » (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, p. 852)

Application du principe énoncé: … .

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C’est à cause de la parole que les hommes donnent l’impression d’être libres. S’ils faisaient – sans un mot- ce qu’ils font, on les prendrait pour des robots. En parlant, ils se trompent eux-mêmes, comme ils trompent les autres : en annonçant ce qu’ils vont exécuter, comment pourrait-on penser qu’ils ne sont pas maîtres de leurs actes ? (De l’inconvénient d’être né, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, p. 858)

L’erreur des intellectuels est de supposer que tout homme pense et agit comme lui. L’erreur de l’homme est de se prendre pour plus rationnel qu’il ne l’est réellement.

Heilige Nacht

In der Ballad of Reading Goal, der Ballade vom Zuchthaus zu Reading, die Oscar Wilde 1897 schreibt, ein halbes Jahr nachdem er aus diesem Gefängnis entlassen wurde, wo er wegen Homosexualität zwei Jahre verbracht hat, heisst es an einer Stelle:

Like two doomed ships that pass in storm
We had crossed each other’s way:
But we made no sign, we said no word,
We had no word to say;
For we did not meet in the holy night,
But in the shameful day.

Das beschreibt wohl die meisten unserer Begegnungen. Vielleicht besteht darin gar das Malaise unserer Zeit: zuviel Tag, zuwenig Nacht.

Die Ballade ist ein Juwel. (Merkwürdig erscheint mir heute angesichts ihrer Länge allerdings, dass ich sie einst ohne Mühe vollständig auswendig hersagen konnte). Wilde ist immer gut, aber Gefängnis und Zwangsarbeit haben kalte Glut entstehen lassen, die ihresgleichen sucht und an der er dann innert zweier Jahre zugrunde gehen wird. Nicht aber, ohne etwas zu notieren – und das ist das eigentliche Thema der Ballade –, das klarsichtiger und zutreffender ist als das meiste, was je über die Liebe gesagt wurde (und deshalb wohl auch so verwirrend und bedrückend):

Yet each man kills the thing he loves
By each let this be heard,
Some do it with a bitter look,
Some with a flattering word,
The coward does it with a kiss,
The brave man with a sword!

Some kill their love when they are young,
And some when they are old;
Some strangle with the hands of Lust,
Some with the hands of Gold:
The kindest use a knife, because
The dead so soon grow cold.

Some love too little, some too long,
Some sell, and others buy;
Some do the deed with many tears,
And some without a sigh:
For each man kills the thing he loves,
Yet each man does not die.

Fürchterlich. Das Einzige, was dem Tod zu widerstehen, ihn zu besiegen vermag, ist selbst mörderischen Charakters. Tatsächlich. So verstörend dies sein mag, so zutreffend ist es doch.

Jeder in seiner eigenen Nacht. Besonders tagsüber.

Die Zukunft und die Liebe

FOTOGRAFIE VOM 11. SEPTEMBER

Sie sprangen aus brennenden Stockwerken hinab –
einer, zwei, noch ein paar
höher, tiefer.

Die Fotografie hielt sie an im Leben,
und nun bewahrt sie sie auf
über der Erde gen Erde.

Jeder ist noch ganz
mit eigenem Gesicht
und gut verstecktem Blut.

Es ist genügend Zeit,
dass die Haare wehen
und aus den Taschen Schlüssel,
kleine Münzen fallen.

Sie sind immer noch im Bereich der Luft,
im Umkreis jener Stellen,
die sich soeben geöffnet haben.

Nur zwei Dinge kann ich für sie tun –
diesen Flug beschreiben
und den letzten Satz nicht hinzufügen.

aus: Wislawa Szymborska, Der Augenblick, Gedichte, Frankfurt 2005

Die Zukunft nicht zu sehen, ja nicht einmal an sie zu denken, ist die eigentliche Ausdrucksform von Zärtlichkeit und Liebe. Denn Liebe kennt keine Zukunft, Liebe ist immerwährende Gegenwart, gleichzeitig allgegenwärtig und unfassbar. Dies ist ihr Absolutes, Gottgleiches, das jede Möglichkeit der Erklärung ebenso ausschliesst wie die Notwendigkeit einer Begründung. Zukunft dagegen ist eine Konstruktion unseres Verstandes, die primär dazu dient, den unserer Kontrolle entzogenen (und daher beängstigenden) Augenblick zu domestizieren, vergleichbar zu machen, einzuordnen und im eigentlichen Sinne zu “verkleinern” (Analoges, wenn auch in wesentlichen Teilen durchaus anderes, gilt natürlich auch für die Vergangenheit, doch davon ein ander Mal.) Durch die Konstruktion der Zukunft wird be-greif-bar, was sich eigentlich jedem Mass und jedem Verständnis verweigert, weil es in seiner Vollständigkeit und Dynamik jede neutrale oder objektive Position ausschliesst. Die Extrapolation vom Gegenwärtigen auf ein Zukünftiges, vom jetzt bestehenden (aber gleichzeitig immer vergehenden und sich auch deshalb entziehenden) Augenblick auf mögliche zukünftige Folgen oder Entwicklungen erlaubt die Projektion unserer Ängste, unseres Ausgeliefertseins auf etwas Konkretes, Kommunizierbares und damit “Objektives”, was sie unmerklich – und quasi nebenher – in etwas Verständliches und Legitimes verwandelt. Die Angst gehört damit nicht mehr zu uns, sondern zum Aussen, zur Welt, zu demjenigen, dem wir ausgeliefert sind. Sie ist nicht etwas, das wir selbst produzieren, sondern etwas, das uns bedroht und bedrückt.

Tatsächlich aber leben wir immer und ausschliesslich in einem einzigen Augenblick, in diesem ephemeren, filigranen, höchst zerbrechlichen und ständig vergehenden Moment, der uns – ganz im Gegensatz zu seiner fragilen Zärtlichkeit – gleichzeitig so vollständig als überhaupt nur vorstellbar umfasst und uns zudem – unserer Kontrolle gänzlich entzogen – auch vollkommen beherrscht, also durch und durch gewalttätig ist, ja geradezu den Inbegriff dessen darstellt, was wir als Gewalt definieren, denn die Herrschaft des Augenblicks über uns ist so vollkommen und einseitig, dass er uns im eigentlichen Sinne “lebt” (und nicht umgekehrt, wie wir gerne glauben möchten). Zumindest die deutsche Sprache zeigt dies auch an, indem Momente nicht ge-, sondern erlebt werden. Die Position eines blossen Objektes aber, einer Puppe oder eines Spielzeugs des Jetzt können wir paradoxerweise nur verlassen, gerade nicht indem wir dem Augenblick entfliehen in eine inexistente Vergangenheit oder eine ungewisse Zukunft, in Träum, Ängste oder Phantasmagorien, sondern gerade zum Gegenteil indem wir uns dem Moment hingeben, in ihm so vollständig als möglich aufgehen. Damit nämlich – so scheint es – vereinigen wir uns mit ihm, werden eins mit ihm, Herr und Knecht verschmelzen, die Unterscheidung hört auf, Sinn zu ergeben. Dies ist der Weg zur Herrschaft über sich – und damit auch über die Welt. Und zudem einer, der uns allen offen steht. Dostojewski (1821-1881) sagt das in den Brüdern Karamasow einmal sehr schön: alle sind wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht wahrhaben; wenn wir es aber wahrhaben wollten, so würden wir morgen im Paradiese sein“. Zu dumm nur, dass ein wenig Mut notwendig ist. Oder Ehrlichkeit. Oder Verzweiflung. Oder Neugier. Oder Hingabe. Oder eben Liebe.