by Filifjonka | Aug 1, 2013
Lektürlich hat Nietzsche zum Vergessen als Fähigkeit und Kunst angeführt. Das ist völlig richtig. Nietzsche sagt das sehr deutlich in den Unzeitgemässen Betrachtungen (1893), und zwar im Stück “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”:
Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.
by Lektürlich | Jul 31, 2013
En tous pays, la loi s’hypnotise sur des délits infimes, ou qui même n’en sont pas, et déshonore un homme pour des actes que tout individu intelligent juge moralement et socialement sans importance. Mais la bassesse de l’âme, la médiocrité, la lâcheté, l’absence de patriotisme, ou plutôt l’antipatriotisme “passent au travers”, et désagrègent peu à peu une nation à laquelle des millions de faux délits ne portaient pas le moindre préjudice.
Montherlant, Carnet XX (1931)
by Lektürlich | Jul 30, 2013
… zur hier thematisierten Problematik der Regel auch Montherlant (Carnet XX):
La principale difficulté, après avoir découvert et adopté une nouvelle règle de vie, est de découvrir quand il faut la transgresser.
Ist es nicht merkwürdig, wie beruhigt wir sind, wenn unsere Positionen, von Anderen (und noch dazu Berühmten) geteilt werden? Als ob das etwas an ihrer Richtigkeit zu ändern vermöchte.
by Lektürlich | Jul 30, 2013
Filifjonka hat hier von der Bedeutung des Vergessens gesprochen. Was für eine Freude, dafür bei meinem Liebling Montherlant (Carnet XX) )einen Beleg zu finden:
Je dirai encore que l’oubli est une vertu, ou un défaut, noble. Oubli, c’est désintéressement et largesse. Le contraire de la lourdeur. Oublier les injures. “Il faut se dire que les hommes sont ainsi, et passer”. Oublier les choses les plus importantes pour soi, à quoi s’accrocheraient tous les autres. Oublier ce qu’on a fait de bien.
(Oublier les services qu’on vous a rendus est comporté dans ce noble flot du Léthé).
Ziemlich ähnlich hatte das Nietzsche formuliert (Vergessen als Fähigkeit, als Leistung).
by Filifjonka | Jul 28, 2013
Ganz richtig, Epipur. Dazu gibt es eine hübsche Parabel von Franz Kafka
20
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Ceremonie.
by Epipur | Jul 28, 2013
Nassim Nicholas Taleb hat uns vor sog. Black Swans gewarnt (siehe: Nassem Nicholas TALEB, The Black Swan, 2nd Ed.., Random House, New York 2010).
Before the discovery of Australia, people in the Old World were convinced that all swans were white, an unassailable belief as it seemed completely confirmed by empirical evidence. The sighting of the first black swan might have been an interestig surprise for a few ornithologists (and others extremely concerned with the coloring of birds), but that is not where the significance of the story lies. It illustrates a severe limitation to our learning from observations or experience and the fragility of our knowledge. One single observation can invalidate a general statement derived from millennia of confirmatory sightings of millions of white swans. All you need is one single (and, I am told, quite ugly) black bird. (S. XXI)
Mit Black Swan meint Taleb ein extrem unwahrscheinliches, völlig überraschendes Ereignis, das schwere Folgen nach sich zieht und im Nachhinein einfach zu erklären ist.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob man das Unerwartete erwarteter machen kann, indem man es erwartet. Die Frage scheint trivial zu sein, sie ist aber von grundlegender Bedeutung.
Der Witz am Unerwarteten ist, dass ein Ereignis immer ex post als unerwartet qualifiziert wird. Wenn man das Unerwartete erwartet hat, so erkennen wir das Unerwartete gar nicht als solches.
Interessanterweise findet die Qualifizierung als unerwartetes Ereignis gerade in einem Moment statt, wo das Ereignis nicht mehr unerwartet erscheint. In der Tat ist das unerwartete Ereignis ex post immer einfach erklärbar und somit nicht mehr unerwartet.
Das Unerwartete ist somit unfassbar. Fasst man es ex ante, so entflieht es (indem wir es nicht als solches erkennen, und indem ein anderes unerwartetes Ereignis möglicherweise passiert); erkennt man es ex post als solches, verschwindet es in dem Moment, wo man es erkennt.
Wenn man endlich etwas Unerwartetes erwartet, so ist das, was man erwartet, so abstrakt, dass es das unerwartete Ereignis gar nicht enthalten kann, weil es gerade jedes unerwartete Ereignis auch enthalten könnte. Nehmen wir ein Beispiel, ich erwarte jetzt etwas ganz Unerwartetes….
…
…
Es ist einfach nichts passiert, das hatte ich aber nicht erwartet (!) Q.E.D.
***
Das Unerwartete ist wie das Leben: unfassbar, unberechenbar. Es findet immer nur im Moment statt.
Letzte Kommentare