Marcel Proust & die Lüge

Die folgende Passage aus der Recherche du temps perdu findet sich in einem kleinen, ganz wunderbaren Buch über Marcel Proust:

Proust war sich dieser Tragik, die im lebenslangen Zwang zur Lüge bestand, vollkommen bewußt. »Wenn ich nicht mehr an die Unschuld Albertines glaubte«, läßt er seinen zur Vernunft gekommenen Marcel grübeln, »so deshalb, weil ich nicht mehr das Bedürfnis,
das leidenschaftliche Verlangen danach in mir trug. Glaube entsteht aus Wünschen, und wenn wir es im allgemeinen nicht wahrnehmen, so kommt das daher, daß die meisten der glaubensstiftenden Wünsche – im Unterschied zu jenem, der mich hatte annehmen lassen, Albertine sei
 unschuldig – erst mit uns selbst enden. […] Die Lüge ist für die Menschheit ganz unabdingbar. Sie spielt bei ihr vielleicht die gleiche Rolle wie das Trachten nach Lust und wird im übrigen durch dieses Trachten bestimmt. Man lügt, um sich seine Lust zu sichern oder um seine Ehre zu schützen, falls das Bekanntwerden der Lust der Ehre entgegensteht. Man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben.«

Michael Maar, Proust Pharao, Berlin: Berenberg, 2. Auflage, 2009, 74 f.

Tatsächlich, «man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben», es braucht nicht nur Weisheit, sondern auch viel Mut, sich dies einzugestehen, da es doch – so unschuldig es klingt – die Grundbedingung unserer Existenz vollständig umreisst.

Die Lektüre dieses kleinen Büchleins über Proust hat mich – ganz gleich den berühmtesten Momenten der Recherche – unmittelbar und sofort zurückkatapultiert in die Studienzeit, als mein Berner Freund und ich parallel und auf Distanz Proust lasen und Blindschach spielten. Das Wetter war, wie jetzt auch, kalt aber nicht unangenehm, der erste Schnee hatte die Luft gereinigt und es gab nichts Bedeutenderes oder Sinnvolleres als Literatur und Lektüre. Und das Leben wartete etwas zu ungeduldig.

Die Medien und wir: Paul Bourget

Die nachstehende Photo zeigt den Schriftsteller Paul Bourget auf dem Weg zum Prozess Caillaux. Henriette Caillaux hatte am 16. März 1914 den Journalisten Gaston Calmette an dessen Arbeitsplatz im Le Figaro erschossen wegen der andauernden Pressekampagne gegen ihren späteren Mann, Finanzminister Joseph Caillaux. Im Prozess wurde sie freigesprochen. Bourget war zufälliger Zeuge des Attentates. Auf dem Weg zum Gericht versucht er, seine Identität mit einem Schirm zu schützen.

Entscheiden

Judith: Manchmal muss man sich entscheiden. Ob richtig oder falsch. Manchmal muss man sich entscheiden.

Thomas: leise und ernst Und das haben Sie.

Judith: Ja. Das haben wir.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 194

Mutlose Vernunft

Judith: Sie sind nicht dumm. Alles, was Sie sagen, ist vernünftig. Aber nur auf kleiner Flamme. Eine schmale und vorsichtige, eine mutlose Vernunft, die nichts ändern will und sich mit allem zufriedengibt, weil es ja immerhin noch schlechter werden könnte. Das sind Sie. Deshalb lässt man Sie ja auch nicht den gefährlichen Terroristen in Berlin befragen, sondern nur dessen Exfrau, die langweilige Professorin, in der Provinz.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 180

Geschichten, nicht Gerechtigkeit

Thomas: Bei fast jedem fall gibt es einen, der sich mit uns einigt. Wussten Sie das nicht? Was wir brauchen, ist nicht Gerechtigkeit, für die sind wir gar nicht zuständig. Wir brauchen eine Geschichte. Wenn Ihr Mann redet, haben wir eine, die sich hören lassen kann. Und er wird reden. Die Leute tun eine Menge, um nicht ins Gefängnis zu gehen. Und zum Glück ist er nicht mehr Ihr Mann. Sonst wäre seine Aussage nicht zulässig. Das war vorschnell mit der Scheidung. Wenn man zusammen Verbrechen begeht, sollte man verheiratet sein.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 173

Wie Mörder aussehen

Judith: Gar nichts können Sie tun, mit Ihren Sonderrechten. Sie haben all Ihre Leute, Sie haben all die Geräte, und Sie können mein Telefon orten, wann immer Sie wollen, aber eigentlich sind Sie hilflos.

Thomas: Sie vertrauen also wirklich dem Rechtsstaat? Das sollten Sie vielleicht nicht. Wenn Sie recht haben mit dem, was Sie schreiben, sollten Sie das vielleicht nicht. Erst würde man mich pro forma verurteilen, weil ich meine Befugnisse überschritten habe, dann bekomme ich einen Orden und werde befördert. So läuft das, wenn man Gefährder überführt. Dann bin nämlich ich im Fernsehen, und Ihnen untersagt der Richter, Interviews zu geben. Ein Richter darf das. Ein Richter dar! Last alles.

Judith: Schauen Sie mich doch an. Sehe ich
aus wie eine, die Menschen umbringen will? Sie haben Mörder gesehen, sehe ich so aus?

Thomas: Mörder sehen nicht wie Mörder aus.

Judith: Sondern wie ganz normale Leute, ich weiß, das sagt man.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 172 f.