Verhaftet?

Thomas: Die Sache ist die. Wir haben Sie zu einem Gespräch gebeten, und Sie haben mit uns gesprochen. Wir wissen das zu schätzen. Aber sollten Sie das Gespräch ausgerechnet bei der Frage nach dem Ort des Anschlags abbrechen, so bedeutet das, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen.

Judith: Wenn ich nicht verhaftet bin, müssen Sie mich gehen lassen.

Thomas: Wenn Sie nicht verhaftet sind.

Judith: Sie haben gesagt, ich bin nicht verhaftet.

Thomas: Noch nicht.

Judith: Sie meinen, ich bin nicht verhaftet, solange ich freiwillig bleibe. Aber wenn ich darauf bestehe zu gehen…

Thomas: Dann müssen wir Sie verhaften.

Judith: Tun Sie das.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 168

Zum Schutz der Unschuldigen

Thomas: Eine Meinung ist keine Tat. Eine Meinung ist eine Meinung. Eine Tat ist eine Tat. Er nimmt eines der auf dem Tisch liegenden Blätter und liest vor. «Wir bekennen uns zu dieser Aktion, durchgeführt an den Weihnachtstagen. Wir bekennen uns zur Notwendigkeit dieser drastischen Maßnahme zur Destabilisierung des Status quo. Bekennen uns zu jedem Mittel, das in Frage stellt, was angeblich ohne Alternative ist.» Er schweigt einen Moment, schüttelt den Kopf und liest weiter. «Die Rhetorik vom Schutz Unschuldiger kommt einem System zugute, das dafür sorgt, dass es ebenso wenig Unschuldige gibt wie wahrhaft Schuldige. Es gibt keine Kombattanten mehr, sondern nur Personen unter Sachzwang. Wer Mitleid fordert, der fordert, den Kampf aufzugeben. Wer den Kampf noch fuhren will, akzeptiert, dass man ihn unmenschlich nennt.» Das ist von Ihrem Computer.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 166

Ein Baum, der umfällt

Thomas: Wenn ich Sie schon bei mir habe. Als Philosophin. Ich wollte immer schon wissen: Wenn ein Baum umfallt und keiner ist dabei, fallt er wirklich?

Judith: Wer stellt die Frage?

Thomas: verständnislos Wer stellt die Frage?

Judith: Ja, wer stellt die Frage?

Thomas: Na ich.

Judith: Sehen Sie?

Thomas: Nein.

Judith: Denken Sie nach!

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 162

Menschen, die bereit sind zu sterben

Thomas: Wissen Sie, womit ich jeden Tag zu tun habe, Frau Professor? Die Dschihadisten, auf die ich ein Auge haben muss, all die verklemmten Kerle, die keine Freundin finden und dann im Netz verkünden, dass sie für Allah kämpfen und man kann nur hoffen, dass sie sich irgendwo in der Wüste erschießen lassen, bevor sie mit dem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt fahren oder mit Maschinenpistolen Journalisten abschlachten. Die Wahrheit ist, dass wir vollkommen machtlos sind gegen Menschen, die bereit sind zu sterben. Wer sterben will ist unbesiegbar, er ist nicht aufzuhalten. Nur darf man das der Öffentlichkeit nicht sagen, die ist schon beunruhigt genug. Sind das Ihre Unterdrückten der Erde, die Mörder von Paris? Jemand wie Sie ist wirklich das Letzte, was ich brauche. Die ganz alten Theorien. Die Wut von vorgestern, staubige Gespenster aus dem Geschichtsseminar. Als wir auf Sie gestoßen sind, mussten wir lachen. «Gibt’s denn so was heute auch noch?», hat mein Kollege gefragt.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 160

Wissen und sterben

Gina Wegner: Wer weiß.

Rubin: Richtig, wer weiß. Keiner. Keiner wird es je wissen. Egal, was ich behaupte, Sie werden sich nie sicher sein, ob Sie was taugen. Im ganzen Leben nicht. Egal, ob Sie Erfolg haben oder ob man Sie auslacht. Etwas in Ihnen spürt, dass es in Fragen der Kunst ein absolutes Urteil gibt. Aber Sie werden nie erfahren, wie es lautet. Kein Engel wird es verkünden, kein Bote des Königs kommt. So geht es uns allen. Es ist wie mit der Treue. Man kann sich nie sicher sein. Wir leben in Unsicherheit und tun unser Bestes. Und dann sterben wir, und es ist alles egal.

Daniel Kehlmann: Der Mentor, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 141

Verheiratet sein

Gina Wegner: Du allein mit allem? Ich bin allein. Ich verdiene das Geld. Und wenn ich heimkomme, steht überall schmutziges Geschirr, weil der Dichter nicht damit belästigt werden kann, den Tisch abzuräumen.

Wegner: Hältst du mir das jetzt vor? Dass du das Geld verdienst?

Gina Wegner: Das Geschirr halte ich dir vor. Nicht das Geld.

Wegner: Du fängst jetzt mit Geschirr an?

Gina Wegner: Wir sind verheiratet, da geht es immer um Geschirr. Und ums Staubsaugen und darum, wer den Müll rausträgt. Und ja, natürlich geht es auch ums Geld.

Wegner: Eines Tages. Ich wusste es. Eines Tages würdest du mir das vorwerfen.

Gina Wegner: Gut, dann ist der Tag heute.

Daniel Kehlmann: Der Mentor, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 123