Nichts zu behüten

Der junge Mann
mit dem ich vorübergehend
die Wohnung teile –
ich sehe ihn kaum.

Nachts
kommt manchmal ein Anruf.

Diese überdrehte,
ängstliche
Stimme.

Misch Dich nicht ein,
sage ich mir.
Was auch immer geschieht:
es gibt nichts
zu behüten.

Rainer Malkowski, Was auch immer geschieht, Frankfurt 1986

Nettelbecks Prozesse

Ein phantastisches Buch mit phantastischen Berichten über Strafprozesse, und ihre Entlarvung.

In der mündlichen Urteilsbegründung reduzierte das Gericht die Tat des Eckart Mellentin auf das an ihr Feststellbare, den gemeinen Mord. Eckart Mellentin habe, um sich aus einer durchaus unangenehmen Situation zwischen zwei Frauen zu lösen, eine Frau getötet, die ihm lästig geworden sei, und ein Kind, das ihn gestört habe. Diese Tat stehe auf dem niedrigsten sittlichen Niveau. Es konnte nicht anders entscheiden. Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist.

Uwe Nettelback, Prozesse. Gerichtsbericht 1967-1969, Berlin 2015, 20.

Jedem, aber wirklich jedem sei das Buch empfohlen, nicht nur wegen der Berichte über die Kindermörder Jürgen Bartsch und Klaus Lehnert, oder über den Frankfurter Brandstifter-Prozess gegen Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll & Horst Söhnlein, die dannzumal noch niemand kannte, sondern wegen des wirklich aussergewöhnlichen Verständnisses dafür, was ein Strafprozess darstellt und was er mit den Beteiligten anstellt, und nicht zuletzt wegen der grossen Sprachkraft Nettelbecks, die ihresgleichen sucht.

Bedeutsames gehört uns nicht alleine

»Liebe Laura«, sagt Gaetano.

»Lieber Gaetano«, sagt Laura.

Gaetano haut Geld auf den Tisch. Viel zu viel. Nicht ein Viertel machen die Getränke aus. Nein, das ist es nicht.

»Ein Zimmer für uns zwei«, sagt er. »Das beste.«

»Es gibt keine guten«, sagt der Argentinier. Er hängt sich das Akkordeon über die Schultern und spielt diese traurige Musik. Die Finger finden die Tasten von ganz allein. Es ist ein Lied, das der Musikant selbst noch nie gehört hat.

Das ist das Paris von Signor Gaetano Bresci. Aber so etwas gehört nicht einem allein. Die Straßen der Nacht sind hell wie in Patterson der Tag. Vor allen Türen ist Licht. Die Straße reicht ins Zimmer. Das ist das Paris von Cavaliere Gaetano Bresci. Über die Treppe folgt er Donna Laura Casati. An den Schuhen klebt Sirup. Zimmer 8 ist das ihre. Laura öffnet ihr Kleid, noch ehe sie die Tür öffnet.

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 120 f.

Nochmals: Warum hast Du das getan?

»Wenn er dich schon nicht gefragt hat, ich frage uicn; warum Dist uu mit’ihm gegangen? Man verläßt nicht mit einem Fremden seine Familie, um sich lediglich eine Stadt anzusehen.«

»Wir haben uns nicht nur die Stadt angesehen. Als ich in Mailand sagte: Ich komme mit Ihnen, da dachte ich, ja, wahrscheinlich werde ich mit ihm schlafen, aber das war nicht der Grund, warum ich mitgegangen bin, es gibt keinen Grund, und am zweiten Abend in Paris hatten wir genug von der Stadt.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 116 f.

Warum hast Du das getan?

»In Paris muß er ja wohl gemerkt haben, daß du seinetwegen mitgefahren bist. Spätestens als ihr ein Doppelzimmer bestellt habt.«

»Warum hätten wir da noch darüber sprechen sollen«, sagte Laura. »Wenn man gemeinsam ein Zimmer nimmt, dann spielt es doch keine Rolle mehr, warum man es tut. Ich meine, dann weiß man warum.«

»Und wenn er dich gefragt hätte, warum du wirklich mit ihm gekommen bist – was hättest du dann geantwortet?«

»Es gibt keine Gründe. Was hätte er mich fragen 
sollen? Was hätte ich ihn fragen sollen?-Wir haben Bahnhof verlassen und waren in Paris. Wir waren erschöpft und verschwitzt. Er war seit Mailand nicht mehr aus seinen Kleidern gekommen, Er war unrasiert. Wir wollten uns waschen.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 113

Die Wahrheit ist dumm

Später erzählte sie ihrem Bruder:

»Ich habe meinem Mann einen Brief auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe ihn nicht angelogen. Ich habe geschrieben:»Ich fahre nach Paris, wahrscheinlich komme ich wieder.«

»Da kannst du sehen, wie dumm die Wahrheit ist«, sagte ihr Bruder.

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 105