Entscheidungen

»Du hast ihn betrogen.«

»Dann muss er mir eben verzeihen.«

»Du hast ihn mit dem Mörder des Königs betrogen,« Er sagte das wie eine Zeile aus einem Gedicht. »Du hast dich in einem Augenblick dazu entschieden, aus einer Laune heraus, mit Leichtigkeit, ohne einen Gedanken. Glaub mir, nur so werden endgültige Entscheidungen getroffen. Die Begründungen dafür werden später nachgeliefert. Sie taugen nichts. Der Wille braucht keine Begründung für die Tat.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 103 

Geschichten und Wahrheit

Der radikal-ethische philosophische Libertin Diderot schwelgte in seinem Bedürfnis nach Geschichten, die er nach Belieben ausschmückte. Wer gut genug erzählen kann, der hat dieses Privileg, denn er weiss, das Bedürfnis nach der Geschichte ist stärker als das nach empirischen Beweisen.

Philipp Blom: Let Me Tell You a Story, Narrative Identitäten in Zeiten der Unsicherheit, Sigmund Freud Vorlesung 2018, Wien/Berlin 2018, 52 

Marcel Proust & die Lüge

Die folgende Passage aus der Recherche du temps perdu findet sich in einem kleinen, ganz wunderbaren Buch über Marcel Proust:

Proust war sich dieser Tragik, die im lebenslangen Zwang zur Lüge bestand, vollkommen bewußt. »Wenn ich nicht mehr an die Unschuld Albertines glaubte«, läßt er seinen zur Vernunft gekommenen Marcel grübeln, »so deshalb, weil ich nicht mehr das Bedürfnis,
das leidenschaftliche Verlangen danach in mir trug. Glaube entsteht aus Wünschen, und wenn wir es im allgemeinen nicht wahrnehmen, so kommt das daher, daß die meisten der glaubensstiftenden Wünsche – im Unterschied zu jenem, der mich hatte annehmen lassen, Albertine sei
 unschuldig – erst mit uns selbst enden. […] Die Lüge ist für die Menschheit ganz unabdingbar. Sie spielt bei ihr vielleicht die gleiche Rolle wie das Trachten nach Lust und wird im übrigen durch dieses Trachten bestimmt. Man lügt, um sich seine Lust zu sichern oder um seine Ehre zu schützen, falls das Bekanntwerden der Lust der Ehre entgegensteht. Man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben.«

Michael Maar, Proust Pharao, Berlin: Berenberg, 2. Auflage, 2009, 74 f.

Tatsächlich, «man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben», es braucht nicht nur Weisheit, sondern auch viel Mut, sich dies einzugestehen, da es doch – so unschuldig es klingt – die Grundbedingung unserer Existenz vollständig umreisst.

Die Lektüre dieses kleinen Büchleins über Proust hat mich – ganz gleich den berühmtesten Momenten der Recherche – unmittelbar und sofort zurückkatapultiert in die Studienzeit, als mein Berner Freund und ich parallel und auf Distanz Proust lasen und Blindschach spielten. Das Wetter war, wie jetzt auch, kalt aber nicht unangenehm, der erste Schnee hatte die Luft gereinigt und es gab nichts Bedeutenderes oder Sinnvolleres als Literatur und Lektüre. Und das Leben wartete etwas zu ungeduldig.

Die Medien und wir: Paul Bourget

Die nachstehende Photo zeigt den Schriftsteller Paul Bourget auf dem Weg zum Prozess Caillaux. Henriette Caillaux hatte am 16. März 1914 den Journalisten Gaston Calmette an dessen Arbeitsplatz im Le Figaro erschossen wegen der andauernden Pressekampagne gegen ihren späteren Mann, Finanzminister Joseph Caillaux. Im Prozess wurde sie freigesprochen. Bourget war zufälliger Zeuge des Attentates. Auf dem Weg zum Gericht versucht er, seine Identität mit einem Schirm zu schützen.

Entscheiden

Judith: Manchmal muss man sich entscheiden. Ob richtig oder falsch. Manchmal muss man sich entscheiden.

Thomas: leise und ernst Und das haben Sie.

Judith: Ja. Das haben wir.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 194

Mutlose Vernunft

Judith: Sie sind nicht dumm. Alles, was Sie sagen, ist vernünftig. Aber nur auf kleiner Flamme. Eine schmale und vorsichtige, eine mutlose Vernunft, die nichts ändern will und sich mit allem zufriedengibt, weil es ja immerhin noch schlechter werden könnte. Das sind Sie. Deshalb lässt man Sie ja auch nicht den gefährlichen Terroristen in Berlin befragen, sondern nur dessen Exfrau, die langweilige Professorin, in der Provinz.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 180