Scheitern am Ständemehr

staendemehr

Welch wunderbare Blüte des Ticker-Journalismus auf 20 Minuten wieder einmal: Eigentlich wurde diese Initiative ja zum bis zum Zeitpunkt dieses Artikels noch in keinem Kanton angenommen, aber: Scheitern wird sie am Ende am Ständemehr!

Verbrecher als Kranke? Verbrechen als Krankheit?

Sagt Wolf Singer im Spiegel (29/2014 vom 14. Juli 2014. S. 38):

SPIEGEL:Verbrecher sind also krank, aber keine schlechten Menschen. Wozu brauchen wir dann das Strafrecht?

Singer: Die Definition von Krankheit würde eine sehr gründliche Diskussion erfordern. Um unser Gesellschaftssystem stabil zu halten, sind Sanktionen bei der Verletzung von Normen unverzichtbar, unabhängig davon, wie weit unser Verständnis der Ursachen von Fehlverhalten reicht. Fest steht: Irgendetwas muss im Gehirn von Straftätern anders sein als bei Menschen, die sich regelkonform verhalten können, denn Verhaltensdispositionen beruhen auf neuronalen Prozessen.

Was belegt: Man kann sehr gescheit, sehr berühmt, und sehr fachkundig sein in einem bestimmten Bereich und dennoch völligen Unsinn erzählen. Gesagt wird doch, dass sich Straftäter nicht regelkonform verhalten können und Nicht-Straftäter schon. Richtig?

Aber erstens sind erhebliche Teile der (jedenfalls männlichen) Bevölkerung “Straftäter” in dem Sinn, dass sie manchmal Straftaten begehen. Was, so wäre zu fragen, ist also ein Straftäter. Denn dass “Nicht-Straftäter” nur ausnahmsweise Straftaten begehen, kann ja nicht entscheidend sein, da auch “Straftäter” sich weit über 99% ihrer Zeit regelkonform verhalten. Selbst besessene Mörder und Vergewaltiger tun die meiste Zeit nichts Böses.

Zweitens unterstellt die Unterscheidung von “Straftätern” und “Nicht-Straftäter” danach, ob die Person sich regelkonform verhalten kann, dass regelkonformes Verhalten von diesen Personen gewollt sei, und zwar grundsätzlich und stets. Denn nur im Bereich des Wollens ergibt das Können überhaupt Sinn. Nur dort, wo ich eine Regel einhalten möchte, dies aber nicht schaffe, ergibt die Rede vom “nicht regelkonform verhalten können” überhaupt Sinn. Will ich die Regel nicht einhalten, erscheint eine Umschreibung als “Nicht-Können” zumindest merkwürdig (wenn auch völlig selbstverständlich für eine Position, die die Möglichkeit des Wollens ohnehin negiert). Viel gravierender aber ist, dass Regelkonformität selbst bei den Konformen praktisch nie wirklich gewollt ist. Meistens halten wir uns Regeln, weil wir keinen Grund haben, uns nicht daran zu halten. Ich etwa habe noch nie jemanden umgebracht. Doch liegt das wohl weniger daran, dass ich (im Gegensatz zu anderen, die das nicht schaffen) das Tötungsverbot oder gar das Gesetz respektiere, als an der Tatsache, dass ich einfach keinen Grund hatte, jemanden zu töten, kein Begehren, ja nicht einmal einen schwachen Wunsch.

Wollte man dem folgen, dann würden alle Delikte, die ich begehen könnte, aber noch nie begangen habe, belegen, dass ich mich regelkonform verhalten kann. Dasselbe aber würde auch für einen Straftäter gelten, denn die potentiell begehbaren (aber nicht begangenen) Delikte sind selbst bei Gewohnheitsverbrechern gegenüber den tatsächlich begangenen immer in erdrückender Überzahl. Selbst schlimmste Verbrecher sind kleine Spiesser.

Horoskop und Gesetze

Skorpion

24.10. – 22.11.

Montag, 11. August 2014

Heute ist ein ereignisreicher Tag, der durchwegs positive Erlebnisse mit sich bringt. Besonders im Zusammenhang mit Menschen haben Sie nun eine glückliche Hand: Sie gehen offen auf Leute zu und machen auf diese Weise interessante Bekanntschaften. Genießen Sie das Leben und lassen Sie alles auf sich zukommen, was das Schicksal Ihnen heute beschert.

(Quelle: www.20min.ch)

Es ist mir kürzlich aufgefallen, dass Horoskope und Gesetze eigentlich schrecklich ähnlich sind.

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Gemeinsam haben sie, dass sie nicht nur etwas Bestimmtes sagen wollen, sondern gleichzeitig auch alles Andere.

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Paradox: eine Leerformel enthält viel mehr als man denkt. Dies ist natürlich nicht nichts.

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“Ein ereignisreicher Tag, der durchwegs positive Erlebnisse mit sich bringt”, das klingt ähnlich wie im positiven Recht: “[der Beauftragte] haftet dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäftes.”(Art. 398 Abs. 2 OR) oder “Der Führer muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann.” (Art. 31 Abs. 1 SVG).

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Je allgemeiner desto besser, denn jeder kann sich darunter seine eigene Situation vorstellen, der Jurist würde sagen “subsumieren”.

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“Rechtsfähig ist jedermann.” (Art. 11 Abs. 1 ZGB)

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Richtig (sei es vorhergesehen oder vorgeschrieben) ist jeweils das, was in die Formel passt. Was passt in die Formel? Genau das, was richtig ist (dumme Frage!).

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“[…] lassen Sie alles auf sich zukommen, was das Schicksal Ihnen heute beschert.” Wie wenn ich etwas anders machen könnte!

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Das Horoskop findet auf alle Lebensfragen Anwendung, für die es nach Phantasie oder Verrücktheit eine Aussage enthält.

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“Wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, kann das Geleistete nur dann zurückfordern, wenn er nachzuweisen vermag, dass er sich über die Schuldpflicht im Irrtum befunden hat.” (Art. 63 Abs. 1 OR) Was aber könnte das Adjektiv “freiwillig” meinen, wenn es nicht voraussetzt, dass man bezahlen will, was seinerseits voraussetzt, dass man weiss, was man bezahlt. Gemäss Art. 63 I OR kann also, wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, sein Geld zurückfordern, sofern er beweisen kann, dass er sie unfreiwillig bezahlt hat.

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“Besonders im Zusammenhang mit Menschen haben Sie nun eine glückliche Hand: Sie gehen offen auf Leute zu und machen auf diese Weise interessante Bekanntschaften.” Wenn ich einem Menschen begegne, gebe ich ihm oft die Hand. So unwahrscheinlich und merkwürdig es auch sein mag, ist es mir doch schon passier, dass ich dabei eine interessante Bekanntschaft gemacht habe. Es ist genau das, was man die “glückliche Hand” benennt.

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“Der Einkommenssteuer unterliegen alle wiederkehrenden und einmaligen Einkünfte.” (Art. 16 Abs. 1 DGB) Was genau als Einkünfte zählen soll, weiss keiner so genau. Auch ob Einkünfte weder wiederkehrend noch einmalig sein können, bleibt natürlich offen. 

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Falsch ist eine Auslegung eigentlich nie, ausser wenn sie falsch ist, was ziemlich selten vorkommt.

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Die Kunst des Horoskop- wie des Gesetzgebers ist es, einen Text zu verfassen, den man praktisch beliebig verstehen kann, der aber gleichzeitig erlaubt, das eigene Verständnis als das einzigmögliche darzustellen.

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Jeder hat so viel Macht, wie er lesen kann.

Nochmals Japan

Eben gehört: Halong ist Japans 11. Taifun in der diesjährigen Taifunsaison. Hast Du gewusst, dass es eine Taifunsaison gibt? Und: Hast Du schon Pläne für die nächste Taifunsaison?

Geheimnisvolles Japan

Soeben auf Trouw.nl die Meldung gefunden, dass die japanische Vagina-Künstlerin Nashiko von der Polizei verhaftet wurde, weil sie eine Datei mit den Daten ihrer eigenen Vagina, mit der sich in 3D-Druckern dreidimensionale Abbilder derselben aus Kunststoff herstellen lassen, auf ihre Website gestellt hatte. Damit kann man etwa dekorative Smartphone-Hüllen herstellen.

nashikoDiese unerfreuliche Nachricht eröffnet die Frage, ob dies auch nach schweizerischem Recht zu befürchten wäre. Nach Auffassung des Bundesgerichts setzt Pornographie indes voraus, dass Darstellungen objektiv darauf ausgerichtet sind, den Betrachter sexuell aufzureizen und dass in der Darstellung die Sexualität dergestalt aus ihren menschlichen und emotionalen Bezügen herausgetrennt wird, dass die jeweilige Person als blosses Sexualobjekt erscheint (BGE 131 IV 64, E. 10.1.1). Das Bundesgericht pflegt dies u.a. anhand der Bildgestaltung, der möglichen Einwirkung auf Darsteller und deren Gesichtsausdrücken zu beurteilen. Problematisch sind insbesonderer laszive oder leicht unterwürfige Gesichtsausdrücke.  Ein ernst dreinblickendes oder lachendes Kind mit entblösster Scheide, das sich seitlich am Liegestuhl festhält, darf man photographieren (BGE 133 IV 31, E. 6.2).

All dies deutet darauf hin, dass die Darstellung von Geschlechtsorganen ohne besonderen Kontext – insbesondere ohne Hinweise auf interpersonale Interaktion – nach schweizerischem Recht zulässig sein muss, da die Darstellung des Geschlechtsorgans ohne zugehörige Person nach objektiven Kriterien nicht als sexuell aufreizend zu qualifizieren ist. Dass in der Rechtsprechung auch darauf abgestellt wird, ob Geschlechtsorgane aufdringlich im Zentrum einer Darstellung stehen (manche tun das ja …) ändert daran nichts, ist doch auch hier die Existenz eines Kontexts vorausgesetzt, der bei einer Telephonhülle mit Vagina-Relief (oder auch einem Boot in Vagina-Form, wie es die Künstlerin ebenfalls gestaltet hatte) fehlt.

Bemerkenswert ist auch, dass in Kawasaki das Frühjahrsfest des stählernen Phallus gefeiert wird – offenbar bislang ohne Verhaftungen. Eine stossende Ungleichkeit. Free Nashiko!

Hootchie Koo

Wilhelm Busch hatte im Julchen gedichtet

Einszweidrei, im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit. –

Und für diejenigen, die nicht lesen, hat es Titiyo, die Schwester von Neneh und Eagle-Eye Cherry, in ihrem Song “Come Along” nochmals wiederholt:

Time flies, make a statement, take a stand
Time flies, take your chance

Heute würde man wohl kurz YOLO sagen.

Einer meiner Lieblings-Songs ist Rock and Roll, Hootchie Koo (manchmal auch Rock ‘n’ Roll, und manchmal auch Coo statt Koo), eine recht unverhohlenen Hommage an den Sex (I hope ya’ll know what I’m talkin’ about … Gettin’ high all the time, but if you’re not there too / Come on little closer, gonna do it to you), geschrieben von Rick Derringer, der bei Johnny Winter und seinen White Trash spielte (Johnny und Edgar waren zwei Albino-Brüder, die einst jeder kannte). Der Song ist vielfach aufgenommen worden, u.a. von Van Halen und es gibt dazu auf YouTube sogar Anleitungen (hier oder hier), wie man die Gitarren-Riffs spielen muss (ach ja, die Zeit fliegt. Gitarren sind ja out). Hier das Original (Derringer mit Winter; die Haare und Kleider sind der Hammer). Mein Favorit ist aber von Stretch und hier zu finden.

Letzte Woche ist Johnny Winter gestorben. Frag mich danach, wo. In einem Hotel in Bülach. Sic transit.