Warum hast Du das getan?

»In Paris muß er ja wohl gemerkt haben, daß du seinetwegen mitgefahren bist. Spätestens als ihr ein Doppelzimmer bestellt habt.«

»Warum hätten wir da noch darüber sprechen sollen«, sagte Laura. »Wenn man gemeinsam ein Zimmer nimmt, dann spielt es doch keine Rolle mehr, warum man es tut. Ich meine, dann weiß man warum.«

»Und wenn er dich gefragt hätte, warum du wirklich mit ihm gekommen bist – was hättest du dann geantwortet?«

»Es gibt keine Gründe. Was hätte er mich fragen 
sollen? Was hätte ich ihn fragen sollen?-Wir haben Bahnhof verlassen und waren in Paris. Wir waren erschöpft und verschwitzt. Er war seit Mailand nicht mehr aus seinen Kleidern gekommen, Er war unrasiert. Wir wollten uns waschen.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 113

Die Wahrheit ist dumm

Später erzählte sie ihrem Bruder:

»Ich habe meinem Mann einen Brief auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe ihn nicht angelogen. Ich habe geschrieben:»Ich fahre nach Paris, wahrscheinlich komme ich wieder.«

»Da kannst du sehen, wie dumm die Wahrheit ist«, sagte ihr Bruder.

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 105

Entscheidungen

»Du hast ihn betrogen.«

»Dann muss er mir eben verzeihen.«

»Du hast ihn mit dem Mörder des Königs betrogen,« Er sagte das wie eine Zeile aus einem Gedicht. »Du hast dich in einem Augenblick dazu entschieden, aus einer Laune heraus, mit Leichtigkeit, ohne einen Gedanken. Glaub mir, nur so werden endgültige Entscheidungen getroffen. Die Begründungen dafür werden später nachgeliefert. Sie taugen nichts. Der Wille braucht keine Begründung für die Tat.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 103 

Geschichten und Wahrheit

Der radikal-ethische philosophische Libertin Diderot schwelgte in seinem Bedürfnis nach Geschichten, die er nach Belieben ausschmückte. Wer gut genug erzählen kann, der hat dieses Privileg, denn er weiss, das Bedürfnis nach der Geschichte ist stärker als das nach empirischen Beweisen.

Philipp Blom: Let Me Tell You a Story, Narrative Identitäten in Zeiten der Unsicherheit, Sigmund Freud Vorlesung 2018, Wien/Berlin 2018, 52 

Marcel Proust & die Lüge

Die folgende Passage aus der Recherche du temps perdu findet sich in einem kleinen, ganz wunderbaren Buch über Marcel Proust:

Proust war sich dieser Tragik, die im lebenslangen Zwang zur Lüge bestand, vollkommen bewußt. »Wenn ich nicht mehr an die Unschuld Albertines glaubte«, läßt er seinen zur Vernunft gekommenen Marcel grübeln, »so deshalb, weil ich nicht mehr das Bedürfnis,
das leidenschaftliche Verlangen danach in mir trug. Glaube entsteht aus Wünschen, und wenn wir es im allgemeinen nicht wahrnehmen, so kommt das daher, daß die meisten der glaubensstiftenden Wünsche – im Unterschied zu jenem, der mich hatte annehmen lassen, Albertine sei
 unschuldig – erst mit uns selbst enden. […] Die Lüge ist für die Menschheit ganz unabdingbar. Sie spielt bei ihr vielleicht die gleiche Rolle wie das Trachten nach Lust und wird im übrigen durch dieses Trachten bestimmt. Man lügt, um sich seine Lust zu sichern oder um seine Ehre zu schützen, falls das Bekanntwerden der Lust der Ehre entgegensteht. Man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben.«

Michael Maar, Proust Pharao, Berlin: Berenberg, 2. Auflage, 2009, 74 f.

Tatsächlich, «man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben», es braucht nicht nur Weisheit, sondern auch viel Mut, sich dies einzugestehen, da es doch – so unschuldig es klingt – die Grundbedingung unserer Existenz vollständig umreisst.

Die Lektüre dieses kleinen Büchleins über Proust hat mich – ganz gleich den berühmtesten Momenten der Recherche – unmittelbar und sofort zurückkatapultiert in die Studienzeit, als mein Berner Freund und ich parallel und auf Distanz Proust lasen und Blindschach spielten. Das Wetter war, wie jetzt auch, kalt aber nicht unangenehm, der erste Schnee hatte die Luft gereinigt und es gab nichts Bedeutenderes oder Sinnvolleres als Literatur und Lektüre. Und das Leben wartete etwas zu ungeduldig.

Die Medien und wir: Paul Bourget

Die nachstehende Photo zeigt den Schriftsteller Paul Bourget auf dem Weg zum Prozess Caillaux. Henriette Caillaux hatte am 16. März 1914 den Journalisten Gaston Calmette an dessen Arbeitsplatz im Le Figaro erschossen wegen der andauernden Pressekampagne gegen ihren späteren Mann, Finanzminister Joseph Caillaux. Im Prozess wurde sie freigesprochen. Bourget war zufälliger Zeuge des Attentates. Auf dem Weg zum Gericht versucht er, seine Identität mit einem Schirm zu schützen.

Entscheiden

Judith: Manchmal muss man sich entscheiden. Ob richtig oder falsch. Manchmal muss man sich entscheiden.

Thomas: leise und ernst Und das haben Sie.

Judith: Ja. Das haben wir.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 194

Mutlose Vernunft

Judith: Sie sind nicht dumm. Alles, was Sie sagen, ist vernünftig. Aber nur auf kleiner Flamme. Eine schmale und vorsichtige, eine mutlose Vernunft, die nichts ändern will und sich mit allem zufriedengibt, weil es ja immerhin noch schlechter werden könnte. Das sind Sie. Deshalb lässt man Sie ja auch nicht den gefährlichen Terroristen in Berlin befragen, sondern nur dessen Exfrau, die langweilige Professorin, in der Provinz.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 180

Geschichten, nicht Gerechtigkeit

Thomas: Bei fast jedem fall gibt es einen, der sich mit uns einigt. Wussten Sie das nicht? Was wir brauchen, ist nicht Gerechtigkeit, für die sind wir gar nicht zuständig. Wir brauchen eine Geschichte. Wenn Ihr Mann redet, haben wir eine, die sich hören lassen kann. Und er wird reden. Die Leute tun eine Menge, um nicht ins Gefängnis zu gehen. Und zum Glück ist er nicht mehr Ihr Mann. Sonst wäre seine Aussage nicht zulässig. Das war vorschnell mit der Scheidung. Wenn man zusammen Verbrechen begeht, sollte man verheiratet sein.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 173

Wie Mörder aussehen

Judith: Gar nichts können Sie tun, mit Ihren Sonderrechten. Sie haben all Ihre Leute, Sie haben all die Geräte, und Sie können mein Telefon orten, wann immer Sie wollen, aber eigentlich sind Sie hilflos.

Thomas: Sie vertrauen also wirklich dem Rechtsstaat? Das sollten Sie vielleicht nicht. Wenn Sie recht haben mit dem, was Sie schreiben, sollten Sie das vielleicht nicht. Erst würde man mich pro forma verurteilen, weil ich meine Befugnisse überschritten habe, dann bekomme ich einen Orden und werde befördert. So läuft das, wenn man Gefährder überführt. Dann bin nämlich ich im Fernsehen, und Ihnen untersagt der Richter, Interviews zu geben. Ein Richter darf das. Ein Richter dar! Last alles.

Judith: Schauen Sie mich doch an. Sehe ich
aus wie eine, die Menschen umbringen will? Sie haben Mörder gesehen, sehe ich so aus?

Thomas: Mörder sehen nicht wie Mörder aus.

Judith: Sondern wie ganz normale Leute, ich weiß, das sagt man.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 172 f.

Verhaftet?

Thomas: Die Sache ist die. Wir haben Sie zu einem Gespräch gebeten, und Sie haben mit uns gesprochen. Wir wissen das zu schätzen. Aber sollten Sie das Gespräch ausgerechnet bei der Frage nach dem Ort des Anschlags abbrechen, so bedeutet das, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen.

Judith: Wenn ich nicht verhaftet bin, müssen Sie mich gehen lassen.

Thomas: Wenn Sie nicht verhaftet sind.

Judith: Sie haben gesagt, ich bin nicht verhaftet.

Thomas: Noch nicht.

Judith: Sie meinen, ich bin nicht verhaftet, solange ich freiwillig bleibe. Aber wenn ich darauf bestehe zu gehen…

Thomas: Dann müssen wir Sie verhaften.

Judith: Tun Sie das.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 168

Zum Schutz der Unschuldigen

Thomas: Eine Meinung ist keine Tat. Eine Meinung ist eine Meinung. Eine Tat ist eine Tat. Er nimmt eines der auf dem Tisch liegenden Blätter und liest vor. «Wir bekennen uns zu dieser Aktion, durchgeführt an den Weihnachtstagen. Wir bekennen uns zur Notwendigkeit dieser drastischen Maßnahme zur Destabilisierung des Status quo. Bekennen uns zu jedem Mittel, das in Frage stellt, was angeblich ohne Alternative ist.» Er schweigt einen Moment, schüttelt den Kopf und liest weiter. «Die Rhetorik vom Schutz Unschuldiger kommt einem System zugute, das dafür sorgt, dass es ebenso wenig Unschuldige gibt wie wahrhaft Schuldige. Es gibt keine Kombattanten mehr, sondern nur Personen unter Sachzwang. Wer Mitleid fordert, der fordert, den Kampf aufzugeben. Wer den Kampf noch fuhren will, akzeptiert, dass man ihn unmenschlich nennt.» Das ist von Ihrem Computer.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 166

Ein Baum, der umfällt

Thomas: Wenn ich Sie schon bei mir habe. Als Philosophin. Ich wollte immer schon wissen: Wenn ein Baum umfallt und keiner ist dabei, fallt er wirklich?

Judith: Wer stellt die Frage?

Thomas: verständnislos Wer stellt die Frage?

Judith: Ja, wer stellt die Frage?

Thomas: Na ich.

Judith: Sehen Sie?

Thomas: Nein.

Judith: Denken Sie nach!

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 162

Menschen, die bereit sind zu sterben

Thomas: Wissen Sie, womit ich jeden Tag zu tun habe, Frau Professor? Die Dschihadisten, auf die ich ein Auge haben muss, all die verklemmten Kerle, die keine Freundin finden und dann im Netz verkünden, dass sie für Allah kämpfen und man kann nur hoffen, dass sie sich irgendwo in der Wüste erschießen lassen, bevor sie mit dem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt fahren oder mit Maschinenpistolen Journalisten abschlachten. Die Wahrheit ist, dass wir vollkommen machtlos sind gegen Menschen, die bereit sind zu sterben. Wer sterben will ist unbesiegbar, er ist nicht aufzuhalten. Nur darf man das der Öffentlichkeit nicht sagen, die ist schon beunruhigt genug. Sind das Ihre Unterdrückten der Erde, die Mörder von Paris? Jemand wie Sie ist wirklich das Letzte, was ich brauche. Die ganz alten Theorien. Die Wut von vorgestern, staubige Gespenster aus dem Geschichtsseminar. Als wir auf Sie gestoßen sind, mussten wir lachen. «Gibt’s denn so was heute auch noch?», hat mein Kollege gefragt.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 160

Wissen und sterben

Gina Wegner: Wer weiß.

Rubin: Richtig, wer weiß. Keiner. Keiner wird es je wissen. Egal, was ich behaupte, Sie werden sich nie sicher sein, ob Sie was taugen. Im ganzen Leben nicht. Egal, ob Sie Erfolg haben oder ob man Sie auslacht. Etwas in Ihnen spürt, dass es in Fragen der Kunst ein absolutes Urteil gibt. Aber Sie werden nie erfahren, wie es lautet. Kein Engel wird es verkünden, kein Bote des Königs kommt. So geht es uns allen. Es ist wie mit der Treue. Man kann sich nie sicher sein. Wir leben in Unsicherheit und tun unser Bestes. Und dann sterben wir, und es ist alles egal.

Daniel Kehlmann: Der Mentor, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 141