Neugierige Blicke

Wem ist das nicht auch schon so ergangen: Da sitzen Sie gemütlich mit Ihrem Rollköfferchen mit rosa Bändchen dran im Terminal 4 des Flughafens Madrid Barajas und denken: Wie könnte ich mich jetzt bloss vor allzu neugierigen Blicken schützen? Ein Versandhändler, der “Products with a story” anbietet, hat die Lösung:

Ostrich

Hierzu sei nur diese kleine Bemerkung erlaubt: Die Vorstellung, dass man unsichtbar sei, nur weil man selber nichts sehen könne, erscheint als eine sehr tröstliche Vorstellung. Wie viele tröstliche Vorstellungen ist sie aber wohl falsch.

Weisheit und Gesetz

Denis Diderot schliesst seine Erzählung “Entretien d’un père avec ses enfants ou Du danger de se mettre au-dessus des lois“, erstmals 1773 erschienen, wie folgt:

Lorsque ce fut à mon tour de lui souhaiter la bonne nuit, en l’embrassant, je lui dis à l’oreille: «Mon père, c’est qu’à la rigueur il n’y a point de lois pour le sage…

—Parlez plus bas…

—Toutes étant sujettes à des exceptions, c’est à lui qu’il appartient de juger des cas où il faut s’y soumettre ou s’en affranchir.

—Je ne serais pas trop fâché, me répondit-il, qu’il y eût dans la ville un ou deux citoyens comme toi; mais je n’y habiterais pas, s’ils pensaient tous de même.»

Interessant, nicht? Überhaupt eine interessante Erzählung für Juristen und alle anderen, die sich über die Frage des Stellenwertes von Regeln oder Gesetzen Gedanken machen. Der obige Link führt zum Volltext des kurzen Textes.

Immer dieselbe Klage

Giovanni Boccaccio, Decamerone, 1. Tag, 10. Geschichte (dt. Übersetzung von Heinrich Conrad, Berlin ca. 1925):

Heutzutage freilich ist zu unserer und aller jetzt Lebender allgemeiner Schande kaum ein einziges Frauenzimmer zu finden, das feinen Witz verstünde oder, wenn es ihn doch versteht, darauf zu antworten wüsste. Denn den Scharfsinn, den in der Vorzeit der Frauen Geist offenbarte, haben die neueren auf den Putz ihres Körpers verwandt, und diejenige, welche sich mit den buntesten, mit Streifen und Zierraten am meisten überladenen Kleidern behängt sieht, meint, sie müsse den übrigen um vieles vorgezogen werden und sei höherer Ehren wert. Doch sie bedenkt nicht, dass, wenn jemand die Mühen des Aufladend übernehmen wollte, ein Esel hundertmal mehr solchen Putz tragen könnte als sie und dennoch nicht mehr Ehre verdienen würde, als einem Esel gebührt.

Oder im Original:

come che oggi poche o niuna donna rimasa ci sia, la quale o ne ‘ntenda alcuno leggiadro o a quello, se pur lo ‘ntendesse, sappia rispondere: general vergogna e di noi e di tutte quelle che vivono. Per ciò che quella virtù che già fu nell’anime delle passate hanno le moderne rivolta in ornamenti del corpo; e colei la quale si vede indosso li panni più screziati e più vergati e con più fregi, si crede dovere essere da molto più tenuta e più che l’altre onorata, non pensando che, se fosse chi addosso o in dosso gliele ponesse, uno asino ne porterebbe troppo più che alcuna di loro; né per ciò più da onorar sarebbe che uno asino.

Die Klage ist nicht nur immer dieselbe, sie ist (wenn auch vielfach gut begründet) dennoch immer ganz sinnlos: Schliesslich gefallen sie uns ja, (wenn nicht weil, so doch sicherlich auch), wenn sie sich herausputzen.

Das Leiden der Kreatur

Frank Fournier schoss das Foto der 13jährigen Omayra Sanchez, das um die Welt ging, im Jahr 1985. Mehr zur Geschichte des Fotos hier.

071029_blog.uncovering.org_omayra-sanchez

Das Mädchen ist am Sterben, rettungslos verloren. Und wir – wie auch der Photograph – dazu verdammt, das hinzunehmen, es mitzuerleiden. Hier geschieht also genau dasselbe wie jeden Tag, immer wieder. Genau so wie wir das Leiden selbst erleben und auch bei anderen kennen und erkennen. Anders ist hier nur, dass der Tod absehbar ist, greifbar, nahe, unerträglich nahe. Merkwürdig, nicht, wie alleine die Verkürzung der Dauer des Prozesses die Sache selbst fundamental verändert. Was an sich schon problematisch ist, die Theodizee, wird in der Verkürzung zu einem Skandalon. Wie kann irgendein Gott so etwas zulassen?

Uns bliebe einzig wegzusehen. Aber gerade das ändert nichts am Ablauf, nichts an unserem Wissen und unserer Verbundenheit mit Omayra, nichts am Skandal unserer Existenz, wenn Kinder so sterben müssen, nichts an unserer Verantwortung, und nichts an unserer Schuld. Denn auch dies bleibt ein Geheimnis: Dass wir zweifellos schuldig werden, obwohl wir nichts tun können. Vielleicht gar, weil wir nichts tun können. Alleine das Wissen um eine leidende Kreatur lässt uns Teil werden ihres Leidens. Dies denn dürfte wohl auch ein Grund sein, dass Diktaturen Folterungen und Hinrichtungen nicht selten öffentlich zelebrieren (besonders eindrücklich etwa bei Otto Dov Kulka, Landschaften der Metropole des Terrors, München 2013, 67 ff., aber auch in der von ihm zitierten Strafkolonie Franz Kafkas).

Und diese Schuld beschränkt sich nicht auf Menschen. Kürzlich etwa habe ich, nachts über Land fahrend, beinahe einen Fuchs überrollt, der offenbar kurz zuvor überfahren worden war, so dass seine Bauchhöhle geplatzt war und seine Eingeweide auf der Strasse vor ihm (und vor mir) lagen. Ich spürte seinen Schmerz auf meiner Haut. Und während ich diese keineswegs eingebildete, sondern tatsächliche, körperliche Empfindung auf der Haut und in meinem Bauch spürte, fragte ich mich, ob das krank oder ungesund, ob ich hypersensibel oder neurotisch sei. Doch wäre das wohl zu einfach, auch wenn ich natürlich zugebe, dass Kranken häufig scheint, sie seien gesund.

Théologie et dangerosité

Selon mon logiciel anti-virus, la page d’accueil de la Faculté de Théologie de l’Université de Fribourg est dangereuse… Faisant fi de toute convention, il va même jusqu’à déclarer y avoir détecté une “infection”.

Infection détectéeSans titreSans titre

Poésie et texte légal

Salut ! bois couronnés d’un reste de verdure !
Feuillages jaunissants sur les gazons épars !
Salut, derniers beaux jours; Le deuil de la nature
Convient à la douleur et plaît à mes regards.

Je suis d’un pas rêveur le sentier solitaire ;
J’aime à revoir encor, pour la dernière fois,
Ce soleil pâlissant, dont la faible lumière
Perce à peine à mes pieds l’obscurité des bois.

Oui, dans ces jours d’automne où la nature expire,
À ses regards voilés je trouve plus d’attraits :
C’est l’adieu d’un ami, c’est le dernier sourire
Des lèvres que la mort va fermer pour jamais.

Ainsi, prêt à quitter l’horizon de la vie,
Pleurant de mes longs jours l’espoir évanoui,
Je me retourne encore, et d’un regard d’envie
Je contemple ses biens dont je n’ai pas joui.

Terre, soleil, vallons, belle et douce nature,
Je vous dois une larme aux bords de mon tombeau !
L’air est si parfumé ! la lumière est si pure !
Aux regards d’un mourant le soleil est si beau !

Je voudrais maintenant vider jusqu’à la lie
Ce calice mêlé de nectar et de fiel :
Au fond de cette coupe où je buvais la vie,
Peut-être restait-il une goutte de miel !

Peut-être l’avenir me gardait-il encore
Un retour de bonheur dont l’espoir est perdu !
Peut-être dans la foule une âme que j’ignore
Aurait compris mon âme, et m’aurait répondu !…

La fleur tombe en livrant ses parfums au zéphyre ;
À la vie, au soleil, ce sont là ses adieux ;
Moi, je meurs ; et mon âme, au moment qu’elle expire,
S’exhale comme un son triste et mélodieux.

(Alphonse de Lamartine, L’Automne, in: Méditations poétiques, 1820)

Celui qui a payé volontairement ce qu’il ne devait pas ne peut le répéter s’il ne prouve qu’il a payé en croyant, par erreur, qu’il devait ce qu’il a payé.

(art. 63 al. 1 CO)

Ces deux exemples illustrent brillamment la différence qui existe entre texte légal et poésie.

***

Alors que la poésie tante d’exprimer un sentiment, c’est à dire de produire une émotion chez son lecteur, le texte légal se borne à inspirer un raisonnement.

***

La poésie est toujours dans l’instant, dans le concret, le texte légal dans l’indéfini, dans l’abstrait.

***

Alors que la poésie se rit des équivoques et vit des ambiguïtés, le texte légal recherche la clarté et l’univocité totalisante. Là où la poésie suggère, le texte légal décrit.

***

La poésie contemple le monde avec passion, le texte légal avec rigueur.

***

Le poète essaie de donner le plus de sens possibles à ses vers, le législateur le moins de sens possibles à ses alinéas.

***

Les détours de la poésie sont autant de plaisants méandres inconnus du texte légal.

Weltliche Dinge und die Notwendigkeit von Gnade

Es liegt klar zutage, dass die weltlichen Dinge, sowie sie insgesamt vergänglich und sterblich, auch nach innen und aussen reich an Leiden, Qual und Mühe sind und unzähligen Gefahren unterliegen, denen wir, die wir mitten unter ihnen leben und selber ein Teil von ihnen sind, weder widerstehen noch wehren könnten, wenn Gott uns nicht durch seine besondere Gnade die nötige Kraft und Fürsorge liehe.

Boccaccio: Decamerone, 1. Tag 1. Geschichte, übersetzt von Heinrich Conrad, Berlin o.J. [1923]

Die wahre Quelle des Rechts bzw. dessen Findung

Neulich wurde der neue Sitz des Bundesstrafgerichts zu Bellinzona eröffnet. Ein wirklich sehr eindrückliches und gelungenes Gebäude mit Verhandlungssälen, wo das Licht der Wahrheit Zeugen durch ein Oberlicht erhellen und gleichsam im Innern einer symbolischen Gerichtslinde getagt werden kann – so zumindest die offizielle Erklärung der Ornamente in der Kuppel des Gerichtssaals, die man ansonsten mit ihrer orientalisch anmutenden Formensprache auch als Hammam auf Speed deuten könnte.

DSCN3143

Einige Stockwerke höher findet man dann aber das, was den eigentlichen Treibstoff für die Rechtsfindung liefern dürfte: In der Cafeteria mit hinreissend verrücktem historischem Wandgemälde steht …. eine beeindruckende Kaffeemaschine in rot (der Farbe des Bundesstrafgerichts also) mit BStGer-Logo. Ob in Lausanne bald eine goldene Kaffeemaschine steht?

DSCN3145