Zwischen den Einschlägen der Flugzeuge in die Nord- und Südtürme des WTC im Jahr 2001 lagen gerade einmal 17 Minuten. Nach dem ersten Einschlag hatte mich entgeistert ein Freund angerufen (nicht aus den USA, sondern der Schweiz), ich solle den Fernseher anstellen. Natürlich tat ich, was er wünschte und erlebte so den Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm “quasi live” mit.
Technik ist es übrigens auch, die zum einen das gesellschaftliche Tempo unermüdlich und unerbittlich erhöht, und die zum anderen – und das ist fatal – das Vergessen langsam aber sicher tötet. (Das Netz vergisst nicht. Nichts.)
Eine Welt ohne Vergessen ist aber im Kern unmenschlich, denn zur Conditio humana gehört die Zeitlichkeit, das Vergessen und Vergessen-werden, das Vorübergehen, das Verlust aber gleichzeitig auch Chance darstellt. Symptomatisch erscheint, dass diese unmenschliche Qualität der Technik (insbesondere der neuen Medien) auf die Gesellschaft selbst abfärbt und ihr zunehmend als Desiderat erscheint. Entsprechend werden Unverjährbarkeiten gefordert, immerwährende Register und unbeschränkt dauernde Verbote, im – natürlich ganz sinnlosen – Bestreben, die Zeit anzuhalten.
Erg hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der Garantie eines fairen Verfahrens eine Bedrohung desselben geworden ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass das Interesse an Sex and Crime einst wohl nicht kleiner war als heute. Auch das Strafrecht selbst bzw. der Strafprozess haben wohl keine fundamentalen Funktions-Veränderungen durchgemacht seit Feuerbach. Eigentlich kann also diese Bedrohung nur auf die Veränderung der Medien selbst zurückzuführen sein. Nur worin bestünde diese Veränderung?
Zu vermuten steht wohl, dass Ursache der Veränderung nicht die Medien selbst oder ihre Funktion sind, sondern schlicht die Technik. Die neuen Technologien bewirken zum einen, dass eine Nachricht praktisch in Echtzeit auf dem gesamten Erdball gleichzeitig verbreitet werden kann. Die Fragmentierung, die einst die Welt in viele kleine lokale Welten unterteilte, ist passé. Es reicht heute nicht mehr, von Zürich wegzuziehen nach Bern, um als Unbekannter noch einmal von vorne anzufangen.
Zwar gibt es v.a. entlang der Sprachgrenzen noch Unterschiede, und natürlich ist die (medial vermittelte) Welt eine andere in den USA, China oder der Schweiz. Aber das sind eben die Grenzen der Sprach- oder Kulturwelten. Und damit sind es eben auch die Grenzen des Einzelnen (als direkt betroffener Medienstoff). Für ihn oder sie ist es eben genau so schwierig, diese Grenzen zu überwinden. Die Totalität der Medien also ist es, die deren ureigentliches Bedrohungspotential darstellt.
Und nochmals Montherlant (pour gouter ou dégouter) aus den Carnets:
Ce n’est pas la réalité qui est vulgaire, c’est l’idéal.
Hübsch, nicht. Und typisch Selbstmörder erfindet er sich Gründe weiterzuleben (Cioran hatte das mal gesagt, nicht, dass der Selbstmörder sich am Sinn des Lebens erschöpft, weil er sich immer wieder neue Begründungen suchen muss):
4 septembre. – La chair n’est pas triste et je n’ai pas lu tous les livres.
Essentiell misstrauisch bleibt er, dem Geist ebenso wie dem Herzen gegenüber, nur die Sinne verschont er:
Tout ce qui est du coeur est inquiétude et tourment, et tout ce qui est des sens est paix.
Schreibt Henry de Montherlant (1895-1972) in seinen Carnets (vgl. Carnets XXXI, in: Essais, Bibliothèque de la Pleiade, Paris 1963, 1208):
Cet avocat me dit que, jeune, il n’aimait de défendre que les causes qui lui paraissaient justes; mais maintenant celle qu’il juge injustes.
Il me dit encore: “S’intéresser à des enfants, horribles quand ils seront grands; à des malades, horribles quand ils seront guéris; à des combattants, horribles quand ils seront redevenus civils; à des pauvres, horribles quand ils seront tirés d’affaires; à des inculpés, horribles quand on ne les persécutera plus.”
Aber dann muss man fairerweise auch zugeben, dass sich Montherlant mit 77 umbrachte, indem er eine Zyankali-Kapsel zerbiss und sich dazu in den Kopf schoss. Ein recht eigenwilliger und merkwürdiger Mensch also.
Berichtet Charles Desmaze, in seinen Curiosités des Anciennes Justice d’après leurs registres, Trésor Judiciaire de la France, Paris 1867, 317 f.:
En 1290, une femme de Paris procura à un juif nommé Jonathas une hostie consacrée. Ce dernier, après l’avoir percée à coups de canif, et en avoir vu couler le sang, après l’avoir jetée au feu et l’avoir vue voltiger sur les flammes, la mit dans la chaudière d’eau bouillante, qu’elle rougit sans en être altérée. Une indiscrétion du fils de Jonathas et la curiosité d’une voisine firent connaître cette tentative sacrilège; la voisine recueillit l’hostie et la porta au curé de Saint-Jean en Grève; Jonathas fut arrêté par l’évêque de Paris, avoua son crime, fut brûlé vif, es sa maison rasée de fond en cime.
Und weil es ja schade gewesen wäre, das schöne Grundstück unnütz liegen zu lassen, hat man es einem guten Zweck zugeführt:
En 1294, une chapelle dite la Maison des Miracles, et bâtie par Rainier Flamming, s’éleva sur le terrain de Jonathas; Guy de Joinville y fonda un monastère, agrandi en 1299 par Philippe le Bel; Clémence de Hongrie enrichit ce couvent où Dieu fut bouilli, et en 1685 on lisait encore cette inscription:
Ci-dessous le juif fit bouillir la sainte hostie.
Wie schön, dass Strafverfolgung immer wieder das Gute fördert.
Reiseportale wie Tripadvisor sind ja nicht nur nützliche und bisweilen unterhaltsame Hilfsmittel um herauszufinden, welche Hotels einem in der Fremde behagen könnten oder wo blutbefleckte Betten und schwarzer Schimmel im Bad den Aufenthalt beeinträchtigen könnten, sondern sie eröffnen uns auch bisweilen einen ganz neuen Blick auf die Welt. Stichwort: Schwarmintelligenz!
Tripadvisor-Userin BoltonPrendi, eine offenbar ziemlich lokalpatriotische Dame, die gewöhnlich “for Fun” reist, zwischen 50 und 64 Jahren, aus Bolton – das liegt übrigens in der Gegend von Manchester – , teilt zum Anlass einer Besprechung des Hotels “Wyspianski” zu Kraków sehr freizügig nicht nur ihre Eindrücke, sondern auch ihre Bilder mit uns. Et voici le résultat :
Wer noch einen Beleg gebraucht hätte, dass Auschwitz aus der modernen Welt nicht herauszubekommen ist: Le voilà!
Hier übrigens auch noch BoltonPrendis Hotelkritik, ein weiterer Beleg dafür, dass zwischen Mamma Mias Pizza und Auschwitz möglicherweise nicht Welten liegen, sondern bei Lichte besehen nicht einmal ein Leerschlag:
we have just returned from a 4 day break in krakow,poland.we stayed at the wyspianskimand it was great,the room was great,the price was great,the food was good,but different.the breakfasts were cereals,not much choice,salad looking things,eggs with cucumber on top??hot onions ,hot dogs,bacon looking things,very strange.no fry ups but it was sufficient to keep you going.we didnt eat in the restaurant at night as it didnt look too busy.instead we ate at the virtuoso in the main square,it was lovely food and very reasonable,we had cocktails ther too.weate at the alter ego pub and mamma mias the pizza there was excellent.we visited the auchswitz and birkenau camps with a company called “discover krakow,they were great.we booked the day before and paid 130 zlotys each.we were picked up by Peter and taken to a larger mini bus.we watched a dvd on the bus,preparing us as to what to expect.we were then taken round the camps by a girl called Marina,she was very knowledgable and was very pleasant.we were then dropped off around 6 hours later,it was all very proffessional,as was the boy in the booking shop,Darek,he spoke very good english too.So if you are looking for a good hotel and a good company to visit the camps with look no further.by the way not many people in the shops can speak english so you have to do a bit of sign language!! also the reception staff at the hotel didnt seem to understand what we were talking about,all apart from 2 of the staff who were very nice.Enjoy your trip.
Tätlich meint laut Duden (und allgemeinem Sprachgebrauch) “körperliche Gewalt einsetzend; handgreiflich”. Das aber meint der Begriff der “tätlichen Person” gerade nicht. Vielmehr bezeichnet er ganz allgemein den Täter (oder die Täterin), nur dass eben – wie bei der grauslichen “Lehrperson” – Geschlechtsneutralität geheuchelt wird. Geheuchelt deshalb, weil es eben keine geschlechtsneutralen Menschen gibt, und gäbe es sie, dann nur ganz temporär, würde die Menschheit doch geschlechtsneutral aussterben. Dass die grosse Mehrheit der “Lehrpersonen” heute weiblich ist, könnte einen Zusammenhang haben mit der Tatsache, dass Jungen auf allen Stufen aus der Schule fallen und das Schulsystem weitgehend als Buben-Aussonderungs-System funktioniert. Selbst wenn es aber nicht die Frauenquote der Unterrichtenden wäre, die den Ausschlag gibt, so hätten wir – nichtsdestotrotz (was für ein phantastisches Wort) – einen Geschlechterbias in unserem Schulsystem. Nicht zuletzt bei der universitären Juristenausbildung, müsste man eigentlich von Juristinnenausbildung sprechen, denn die grosse Mehrheit der Studierpersonen ist inzwischen weiblich.
Im Bereich der Kriminalität ist das Bestreben um Geschlechtsneutralität nun besonders irr, weil Kriminalität ein essentiell männliches Phänomen ist. Entweder es stimmt etwas nicht mit der Emanzipation, oder mit der Geschlechtsneutralität, denn die einst in Aussicht gestellte Angleichung der Kriminalitätsquoten der Geschlechter lässt nach wie vor auf sich warten. Und sperrte man alle Männer ein, so existierte auch praktisch keine Kriminalität mehr, jedenfalls keine schwere. Oh, pardon. Das sollte natürlich umgekehrt heissen: Sperrte man alle tätlichen Personen weg, wären damit auch praktisch alle Personen männlichen Geschlechts im Gefängnis.
Vielleicht sollten wir die Unterschiede zugeben (statt sie sprachlich einzuebnen) und dann danach zu fragen, warum sie denn bestehen. Vielleicht könnten wir ja dergestalt nicht nur etwas über Kriminalität, sondern gar noch etwas über die Geschlechter lernen.
Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig – Art. 10 StPO
Das Schweizer Fernsehen pflegt seine Zuschauer zur Sommerzeit seit einigen Jahren mit Verbrechen zu unterhalten. Spannend erzählt, mit Soundbites aller möglichen Nachbarn und Arbeitskollegen von Tätern/Opfern und ermittelnder Polizisten und Strafverfolger, mit erstmals aus der Asservatenkammer gekramten Schwertern und Tatortphotos etc., und mit sachkundigen Erläuterungen eines renommierten Strafrechtsprofessors aus Zürich. Heuer: “Schweizer Verbrechen im Visier”.
Am 24.7.2013 im Programm: “Cronik eines Missbrauchs“, ein Film von Michèle Sauvain. Klingt spannend:
Vor kurzem wurde bekannt, dass ein fachlich hochgeschätzter Schulsozialarbeiter in den vergangenen 17 Jahren in verschiedenen Kantonen mehrere Knaben sexuell missbraucht haben soll. Warum konnte der Mann so lange unentdeckt sein Unwesen treiben, obwohl es immer wieder Gerüchte gab?
Sowohl etwas weiter unter im Werbetext zum Film als auch daselbst nach ca. 5 Minuten der Satz:
Mittlerweile ist der Beschuldigte B. geständig.Wie ist es möglich, dass ein Mensch über 16 Jahre lang Kinder sexuell missbraucht, ohne dass er gefasst wird? Der beschuldigte Schulsozialarbeiter T.B. sitzt seit eineinhalb Jahr in Untersuchungshaft. Vor einer Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.
Und doch besteht der Film vorwiegend in einer Darstellung dessen, was B. alles vorgeworfen wird. Natürlich mit detaillierter Darstellung von Details (Arbeitsorte, Tätigkeiten, Filmauftritte des Betroffenen, Hinweis auf die von ihm verfasste Kolumne, verfremdete Filmaufnahmen des Beschuldigten), die sicherlich all jenen, die B. kannten – jetzt kennt ihn ja niemand mehr, alle reden nur noch in der Vergangenheitsform über B., als ob er tot wäre – und auch sonst hinreichend Neugierigen eine Identifikation erlauben dürften. Alle möglichen Schulleiter und Nachbarn werden interviewt und sind natürlich erstaunt. Vertreterinnen von Opferberatungsstellen werden interviewt und sind natürlich schockiert.
Und die Polizei? Die sagt zwar nichts zum Fall, natürlich nicht, das darf sie nicht, das ist ein hängiges Verfahren, da sei die Unschuldsvermutung vor, aber Polizistinnen und Polizisten können immerhin durch Milchglastüren schreiten und sagen, wie das denn im Allgemeinen so sei mit Pädokriminellen. Auch ein Herr von der Kobik und eine Doktorandin haben viel zu erzählen über Pädokriminelle im Internet und darüber, wie schwierig die Ermittlungen gegen sie sind.
Es ist nun durchaus von Interesse und eine schwierige Frage, welche Massnahmen zur Vermeidung von Missbrauchsfällen an Kindern getroffen werden sollen und können. Die Bekämpfung der Kinderpornographie im Internet ist ein wichtiges, aber auch – man denke an die Frage der verdeckten Ermittlung – ein sehr heikles Thema.
Bloss: Ist all das jetzt nur ein Thema, weil man es am “Fall B.” aufhängen konnte? Musste sich Frau Sauvain in der Redaktionssitzung anhören, das sei jetzt “wie keine Geschichte”, wenn man keinen konkreten “Fall” habe, dann passe das nicht in die Sendereihe? Sah sie sich schon der Chance beraubt, sich als furchtlose investigative Journalistin zu zeigen, die B. bereits für einen Dokumentarfilm über Jugendliche interviewt hatte, bevor er als Kinderschänder berühmt war, quasi in der Höhle des Löwen? Hätte man mit diesem Film nicht warten können, bis der Fall tatsächlich zu einem “Kriminalfall” geworden wäre, also bis nach einer Verurteilung von B.?
Die Unschuldsvermutung wird jedenfalls zu einer Farce, wenn sie zur blossen Floskel verkommt und irgendwann in einem Halbsatz in einem Film erwähnt wird, der ansonsten der breitestmöglichen Darstellung der Tatvorwürfe gegen einen Beschuldigten gewidmet ist.
Doch in der Kriminalberichterstattung in den Medien steht der Film nicht als Lapsus dar, sondern er spiegelt die Norm wieder: Es gibt wohl kaum einen Nachrichtensprecher in diesem Lande, der nicht schon nach der detaillierten Darstellung eines Deliktsvorwurfs mit gönnerhaftem Lächeln den Satz eingestreut hätte: “Natürlich gilt in diesem Fall die Unschuldsvermutung”. Und gedacht hätte “…natürlich war er’s, das ist doch klar, und das wissen die Leute auch, jetzt. Aber diese Juristen …”
Kennt oder hört irgendjemand Sigismund Thalberg? Das war mal einer der berühmtesten Klaviervirtuosen, der nicht nur Fantasien über Opernmelodien Donizettis, Bellinis oder Verdis geschrieben hat, sondern auch die phantastischen “Soirées de Pausilippe”. Ähnlich ging es Leopold Godowsky oder Moriz Rosenthal (auch wenn der “nur” gespielt hat und nicht auch extensiv komponiert). Kaum etwas ist so passé wie die Stars von einst. Aber Thalberg, Thalberg!
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