Die Weisheit der Algorithmen
Wenn schon Taschenbuch, dann bitte gebraucht. Das erhöht den Wert!
Wenn schon Taschenbuch, dann bitte gebraucht. Das erhöht den Wert!
Das Ziel ist nur ein plötzliches Aufhören zu gehen.
Franz Blei
Oh sieh doch nur, wie frei wir heute sind.
Meine Hauptinformationsquelle blieben für mehrere Wochen der gehrocktragende Direktor des Adlon, der Kellner, der mir den Tip mit Liebknechts großer Stunde im Schlafzimmer der Hohenzollem gegeben hatte, und eine Gruppe homosexueller Flieger, die ich in einem Offiziersclub kennengelernt hatte. Es waren elegante Burschen, parfümiert und mit Monokel versehen und gewöhnlich voller Heroin oder Kokain. Sie liebten sich wechselseitig ganz offen, küssten sich in Cafe-Nischen und verdrückten sich etwa um zwei Uhr nachts in ein Haus, das einem von ihnen gehörte. Eine oder zwei Frauen befanden sich gewöhnlich in der Gesellschaft – breitmündige, dunkeläugige Nymphomaninnen mit adligen Titeln vor ihren Namen, doch mit unedlen Leidenschaften und Ausschnitten an ihren Flanken. Gelegentlich wurden der Haus-Gesellschaft kleine Mädchen von zehn oder elf Jahren zugeführt, die man vom Pflaster der Friedrichstraße rekrutierte, wo sie nach Mitternacht mit harten Gesichtern in polierten Stiefeln und kurzen Kinderkleidern paradierten.
So der Auszug aus dem Bericht von Ben Hecht im Jahr 1919. Schwer vorstellbar heute. Die gesamte Bagage wäre im Gefängnis, so kleinräumig und umfassend haben wir die Kontrollen eingerichtet.
Ben Hecht, Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919 (Auszug aus den Memoiren: A Child of the Century, 1954), 2. Auflage, Berenberg: Berlin 2014, 13 f.
Zu einem Beitrag über Carl Schmitt auf SW2 steht in der Einleitung:
Linke wie rechte Theoretiker berufen sich auf ihn. Die juristischen Väter des Grundgesetzes folgten teilweise seinen Ideen, namhafte Staatsrechtler der Bundesrepublik waren seine Schüler. Aktuell beziehen sich jedoch auch die Wortführer der “Neuen Rechten” auf Schmitt. – Ein Denker, der ebenso gefährlich wie einflussreich war und ist.
Das alles stimmt ja. Eingeleitet wird es aber mit folgender Passage:
Carl Schmitt (1888 – 1985) war einer der namhaftesten juristischen Komplizen des Dritten Reiches. Trotzdem gilt er bis heute als einer der originellsten Köpfe der politischen Philosophie.
Lustig. Und sehr verräterisch, nicht wahr? Denn was genau ist ein «juristischer Komplize»? Und kann ein Nazi überhaupt ein origineller Kopf sein? Das «trotzdem» ergibt ja nur Sinn, wenn das bezweifelt, oder gar verneint wird. Übersetzt: Nationalsozialismus ist tumb und primitiv. Das aber ist eine kardinale Fehleinschätzung. Eine übrigens, die sich heute bis ins Detail hinein wiederholt, etwa bei der Einschätzung von Nationalismus oder «Populismus». Nur nebenher bemerkt: Ist Dir schon einmal aufgefallen, dass die Medien kaum ohne den Begriff «Rechtspopulismus» auskommen, dass aber weder «Linkspopulismus» noch «Populismus» (ohne Rechts) existieren. Aber wenn Rechtspopulismus und Populismus dasselbe sind, wieso dann der Pleonasmus, die Bezeichnung als «Rechts»populismus?
Dass die Ängste und Verunsicherungen der scheinbar Ungebildeten und Armen unverständlich und empörend scheinen können, liegt – heute wie damals – am vollständigen Unvermögen vieler Intellektueller, sich vorzustellen, dass Rationalität und Moderne Geschwister sind des «Bösen» und nicht seine Feinde. Es braucht viel Intelligenz und Disziplin, um wirklich böse zu sein. Entgegen der modernen Legende streben Menschen nicht primär nach Freiheit, sondern nach einem Zuhause. Nicht zufällig warfen die Nazis dem «jüdischen Wesen» seine Internationalität und scheinbare Heimatlosigkeit vor, die gleichgesetzt wurden mit fehlender Loyalität.
Am Ende landen wir eben immer bei uns selbst. Wer aber könnte von sich sagen, er sei zuhause in der Welt?
La caprice du numérotage m’avait placé au côté d’une petite fille, dix onze ans, pourvue d’un de ces écriteaux blancs informant que l’enfant voyageait non accompagnée. Je n’y pris pas garde. Moi-même je voyageait non accompagné. On nous avait sans doute regroupé pour plus de commodité.
Jean-Claude Grumberg, Mon père. Inventaire, Paris 2003, 133 f.
Nicht einmal in der privaten Sphäre entstehen Morde aus Antipathie, kommt Frieden aus der Genauigkeit der Einander-Kennens. Im Gegenteil: Menschen sind nicht so, dass es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten. Wann hätte je die berüchtigte ‘unüberwindliche Abneigung’ den Gattenmord produziert? Eher die unüberwindliche Zuneigung zu einem virtuellen Gatten.
Hans Blumenberg: Man auch nicht mögen dürfen, in: Hans Blumenberg/Carl Schmitt: Briefwechsel 1971-1978 und weitere Materialien, Suhrkamp 2007.
Was die rühmende Formel angeht, die erste ‘Kritik’ [die Kritik der reinen Vernunft, 1781, von Immanuel Kant] sei das Hauptwerk der deutschen Aufklärung gewesen, so besagt sie schon deshalb wenig, weil diese Aufklärung damit auch schon zuende war – was für ‘Aufklärungen’ nicht der Effekt eines Hauptwerks sein sollte.
Hans Blumenberg, Gleichgültig wann? in: Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfur 2000.
“Zeitnah” ist eine recht beliebte Neuschöpfung. Auf scheinbar intellektuelle und elegante Weise werden Zeit und Ort verknüpft, indem die Zeit als eine Art Raum konzipiert wird. Was wäre, wenn wir den Raum als eine Art Zeit verstünden? Wie aber könnte wohl das räumliche Pendant zu “zeitnah” lauten? Ortsbald?
Das Schiff hatte acht Passagiere an Bord, keine Frau darunter. Infolgedessen herrschte Freiheit und Friede, jeder konnte tun, was er wollte, und besonders, wer gar nichts tun wollte, fand hierzu die herrlichste Dauer-Gelegenheit.
Alfred Polgar, Kleine Schriften, Bd. 2, Kreislauf, Rowohlt 1983
Wer direkt ins Licht schaut, dem verdunkelt sich bald alles andere.
Das Leben vergeht. Es ist schon vergangen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von (grosszügig gerechnet) 85 Jahren, erleben wir – wenn wir die ersten und letzten paar Jahre abziehen – bewusst vielleicht 80 Sommer, 80 Herbste, 80 Winter und 80 Frühlinge.
In Tagen gerechnet sind es ungefähr 30’000. Wenn wir mit 30 erwachsen werden, bleiben uns noch etwa 20’000. Wenn wir nur jede Woche nur ein Buch lesen wollten, wären das weniger als 3000 Bücher. Und selbst wenn wir bereits mit 15 damit begonnen hätten, ergäbe das wenig mehr als 3500. Und wer liest denn heute noch jede Woche ein Buch?
Warum also Bücher lesen, die uns nicht interessieren?
Damit ist freilich nicht richtig, dass der im Lebensvollzug verleugnete Tod geleugnet würde. Er ist vorhanden durch das Wissen, dass alle sterben müssen. Aber Wissen ist wenig, man muss es auch glauben können. Niemand kann glauben, dass es mit ihm einen Anfang genommen hat und ein Ende nehmen wird. Das liegt im Wortsinne ‘ausserhalb der Reichweite’ unseres Bewusstseins. Wir waren nicht dabei, als wir anfingen, und wir werden nicht dabei sein, wenn wir enden. Jeder erfährt es nur indirekt: Alle anderen haben einen haben Anfang und Ende, und man hat auch ihm bescheinigt und wird es ihm bescheinigen, dies sei bei ihm nicht anders.
Hans Blumenberg, Ein Instinkt der Uneigentlichkeit?, in: Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt 2000
Der anonyme Barrister will anonym bleiben, damit er als Barrister weiterarbeiten kann. Dieser Wunsch ist alleine schon angesichts eines Jahreseinkommens von ca. 25’000 Pfund eindrücklich. Am Geld – und das gilt auch die Strafverteidiger unseres Landes – kann die Berufswahl nicht liegen.
The attraction to an egotist with an insatiable desire to hold centre stage – a description applicable to the near-entirety of the Bar – is plain; but for me, and most barristers I know, there is a greater, overarching reason for choosing this path: crime is where the stakes are highest.
Der Secret Barrister schreibt einen Blog und ist aktiv auf Twitter (@BarristerSecret). Das Buch, um das es hier geht, erzählt vom englischen Rechtssystem, genauer von der Strafjustiz, seiner Geschichte und seinen gegenwärtigen Problemen,
I’ve lost count of the times I’ve locked eyes with a legal advisor and watched their eyebrows ascend to the heavens as a magistrate reads out a decision wildly ignoring the legal advice patiently explained to them just moments before.s
es erzählt vom Leben der Barrister (wobei es nebenher auch den Unterschied zu den Solicitors erklärt), also einfach gesagt der Prozessanwälte, derjenigen Gruppe von Juristen, die im Strafprozess Anklage und Verteidigung vertreten. Es illustriert seine Darstellung der aktuellen englischen Rechtspraxis an konkreten Fällen, in einem sehr direkten und doch poetischen Ton, der alles andere als politisch korrekt aber stets mitfühlend und menschlich ist.
Rio had been refused bail, both by the magistrates and, upon appeal, by a Crown Court judge, and this, along with a series of other perceived sleights, lay behind his decision to dispense with his previously instructed counsel and direct his solicitor to ‘find me some other cunt’. Alan, with me as his willing lackey, was that cunt.
Darüber hinaus aber bringt es eine verheerende Kritik des gegenwärtigen Zustandes der englischen Justiz vor, die umso mehr erschreckt, als die Parallelen zu unser eigenen Situation überdeutlich sind.
The net result of these reforms should terrify: an enormous influx of serious cases subjected to the second-class treatment of the magistrates’ courts, hammered through the sausage factory of summary justice by our jolly, willing amateurs, and with enormous restrictions on the right to appeal.
Höchst empfehlenswert für jeden, der sich für Justiz interessiert, oder Gesellschaft, oder die Welt, in der wir leben, oder einfach für Recht, und Menschen.
The Secret Barrister: Stories of the Law and how It’s Broken. 376 S. London: Macmillan 2018.
Informativ und unterhaltsam. Englisches Rechtssystem, Barristers und Richter. Berühmte Fälle wie Peter Sutcliffe, der als Yorkshire Ripper bekannte Serienmörder. In jeder Hinsicht eine höchst empfehlenswerte Lektüre.
Harry Ognall, Harry: A life of crime: Memoirs of a High Court Judge. 149 S., London: William Collins 2017.
“Wir sind beste Freunde. Wir sind nicht da, wenn wir einander brauchen.” So haben meine besten drei Freunde und ich immer gelacht. Das war kein Programm, als das es viele missverstanden haben, sondern schlicht Beschreibung der Wirklichkeit. Oder hast Du es je erlebt, dass jemand erreichbar war in denjenigen Momenten, in welchen es wirklich wichtig gewesen wäre? Irgendjemand? Ich auch nicht.
Das hängt nicht etwa am fehlenden guten Willen oder irgendetwas Anderem, das wir steuern könnten, sondern eher an der Tatsache, dass im selben Moment, im selben Augenblick Milliarden von Momenten gelebt werden, alle gleichzeitig, aber alle parallel.
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