Gnade

Was für ein Weihnachtsfest! Die Königin von England vergibt Alan Turing doch noch sein Verbrechen – schwul gewesen zu sein.

Turing

Siehe 20Min

… noch Ende 2011 blockte das Justizministerium in London einen Vorstoß ab, Turings Verurteilung postum aufzuheben. Die Begründung: Er hätte schließlich gewusst, dass sein Tun zur damaligen Zeit strafbar gewesen sei.

So der Spiegel. Klar: Selber schuld! Aber immerhin: Wenn schon keine Gerechtigkeit, dann wenigstens Gnade. Wie schön. Der Spiegel weiter:

Die jetzige Entscheidung der Queen war laut Grayling erst die vierte Begnadigung durch einen Monarchen in Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Aha. Waren das auch Schwule, fragt man sich? Und hatte Grossbritannien in dieser ganzen Zeit nur 4 Schwule? Und wenn nicht, wer verzeiht dann den anderen und begnadigt sie? Und wie lange wird das bei denen dauern, die keine für das Königreich unersetzlichen Genies waren, sondern nur einfach schwul?

Wir hatten hier die Gnade und ihr Zugehören zu Gott bereits erwähnt. Nicht überflüssig deshalb vielleicht ein Passage aus der Bibel (Hebräer, 12/6 ff.):

6 Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er geißelt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Wenn ihr Züchtigung erduldet, so behandelt euch Gott ja als Söhne; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, derer sie alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr ja unecht und keine Söhne!

Wieviel Trost doch Schwule (aber auch andere ungerecht Behandelte) in der Religion finden könnten, wenn sie nur wollten.

Regel als Regel befolgen III

Einer Regel folgen, weil es die Regel ist, meint nichts anderes, als die eigene Autonomie, das freiwillige Entscheiden aufzugeben. Denn eine Regel ist immer generell und abstrakt, so dass in jedem Einzelfall entschieden werden muss, ob die Regel gilt oder nicht, d.h. ob wir es mit dem “Grundsatz” zu tun haben oder mit einer “Ausnahme”.

Grundsatz oder Regel und Ausnahme sind zwei Kategorien die der Rechtsregel eigentlich fremd sind und die nur subjektiv, im Einzelfall entstehen und Sinn haben.

Spricht man von Regeln und Ausnahmen im Gesetz, so vermischt man Abstraktes und Konkretes. Denn selbst eine kodifizierte Ausnahme stellt eine Regel dar, die im Einzelfall ausnahmsweise nicht angewendet werden kann. Eine kodifizierte Ausnahme in diesem Sinne ist nichts anderes als eine andere Regel für einen anderen Falltypus.

Mit Regel und Ausnahme wird nicht auf den Gesetzestext verwiesen, sondern auf die Freiheit des Richters, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Regel entstehen soll oder nicht, auf die Freiheit des Einzelnen zu entscheiden, ob er im Einzelfall etwas tun darf oder nicht. Dies ist auch der Grund, warum der Einzelne Verantwortung für sein Handeln trägt.

Eine Regel als Regel befolgen, oder eine Ausnahme restriktiv auslegen, weil es eine Ausnahme ist, kann somit nur als Tyrannei der Abhängigkeit und des Nicht-Denkens bezeichnet werden.

Théologie et dangerosité

Selon mon logiciel anti-virus, la page d’accueil de la Faculté de Théologie de l’Université de Fribourg est dangereuse… Faisant fi de toute convention, il va même jusqu’à déclarer y avoir détecté une “infection”.

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Flüchtlinge und die hilfsbereite Schweiz

Ist es nicht phantastisch, in einem Land zu leben, das so grosszügig ist mit Menschen in Not, die nicht wissen wohin? Wir haben unsere Offenherzigkeit ja immer wieder unter Beweis gestellt. Im zweiten Weltkrieg etwa haben wir rund 55’000 erwachsene Flüchtlinge aufgenommen (davon etwa 21’000 Juden). Denjenigen, denen das wenig erscheint, sei in Erinnerung gerufen, dass die USA, die ja als Hafen der Verfolgten gesehen werden, von 1933-1945 gerade einmal 250’000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen haben. Aber es geht hier natürlich nicht um einen Wettbewerb in Hartherzigkeit.

Es ist aber auch vor diesem Hintergrund beeindruckend, was wir hören: In Syrien steige der Leidensdruck. Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Flucht, so hört man, rund zwei Millionen jedenfalls. Dem will sich nun auch die Schweiz nicht verschliessen und sogar SVP-Politiker fordern, mehr syrische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Das Kontingent syrischer Flüchtlinge könnte erhöht werden. Aha! Wieviel sind es denn bis jetzt? Bisher hat die Schweiz – Achtung, Trommelwirbel! – 70 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Das zu erhöhen sollte ja nicht wirklich schwierig sein. Aber diese Dimension passt ja auch zur notorisch hartherzigen SVP, richtig? Klar. Die notorisch warmherzige SP nämlich könnte sich durchaus die Aufnahme von – Achtung, nochmals Trommelwirbel! – “ein paar Hundert” Flüchtlingen vorstellen.

Wie gesagt: Welche eine Freude, in einem so grosszügigen Land zu leben.

 

Valéry, Cahiers

Es kann passieren, dass man beim Lesen erschreckt und denkt: das ist wahr, genau SO fühle ich es auch.

Dies ist mir vor einigen Tagen passiert, als ich die Cahiers von Paul Valéry las.

Ego – Insula – Souvenirs

Bizarre tête – Je n’existe que singulier et comme à l’état naissant. Ne comprends que ce que j’invente. Ce qui a infecté mes études – et dégoûte des maîtres qui n’excitaient pas ce sens – Au contraire!

Faire inventer est le secret de l’enseignement non bête.

Voir un homme d’esprit visiblement grossier “expliquer” une délicatesse littéraire, une difficulté de raisonnement ou d’expression – est démoralisant. Je ne pouvais pas concevoir que tel rustre diplômé comprît ce que je ne comprenais pas. Et je m’habituai à ne pas savoir ni comprendre – Ce qui fit que je me séparai in petto de ces êtres et de leurs vérités – et me sentis d’une autre espèce – inférieure par bien des choses – et résigné à l’être, à ne vivre que de ses propres ressources.

Il me semblait non moins impossible que quelque prêtre pût savoir au vrai ce qu’il enseignait et comprendre ce qu’il disait. La foi est la supposition contraire -, et se réduit dans les jeunes esprits à cette confiance naturelle. – Je ne pus jamais imaginer qu’un homme en sût plus qu’un autre si ce n’est par quelque observation de ses yeux, ou en quelque mode d’action et d’opération.

Croire, donc, en toute matière, me parut un état provisoire et expédient. Un pis-aller. On ne peut s’en passer, comme on se contente de peu, soit par indifférence, soit par nécessité, soit par négligence naturelle et paresse. Mais la foi veut que l’on donne à ce minimum plus de valeur qu’à une certitude positive.

D’ailleurs je ne fus pas plus convaincu de la démonstration de l’égalité des triangles que de celle de la Trinité.

Je n’ai jamais compris cette démonstration d’Euclide (comme je l’ai expliqué à Painlevé) – et ce genre de résistance – transformé par la discipline scolaire – en répugnance – a vicié pour toujours mon éducation mathématique.

Il me semblait qu’on ne transporte pas un segment dans son esprit pour l’appliquer à un autre sans faire d’avance que l’on trouvera égalité ou non. L’esprit fournit segment, transport, conservation et différence -, et cela ne prouve rien. Si, au contraire, l’opération est matérielle – elle n’a aucune généralité – et le théorème n’existe pas. La constatation ne déborde pas son acte. D’ailleurs un triangle dont les sommets seraient Sirius, Véga et Antarès est peu maniable – et même d’existence assez disputable – si on le confond pas avec celle d’une petite figure sur le papier.. Ici, le prêtre dirait que ce qui est lié et délié sur la terre est lié et délié dans le ciel!

Mais peut-être faut-il qu’il y ait de mauvais élèves, des esprits bouchés – pour que quelques-uns s’opposent aux maîtres de basse qualité? Car le bon et docile élève d’un maître bête reflète de la bêtise et reçoit la récompense de se l’être assimilée. Ce qui se voit tous les jours.
(Paul Valéry, Les Cahiers, Bd. I, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1973, S. 161 f.)

Die Unschuldsvermutung – Ein Nachruf

Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig – Art. 10 StPO

Das Schweizer Fernsehen pflegt seine Zuschauer zur Sommerzeit seit einigen Jahren mit Verbrechen zu unterhalten. Spannend erzählt, mit Soundbites aller möglichen Nachbarn und Arbeitskollegen von Tätern/Opfern und ermittelnder Polizisten und Strafverfolger, mit erstmals aus der Asservatenkammer gekramten Schwertern und Tatortphotos etc., und mit sachkundigen Erläuterungen eines renommierten Strafrechtsprofessors aus Zürich. Heuer: “Schweizer Verbrechen im Visier”.

Am 24.7.2013 im Programm: “Cronik eines Missbrauchs“, ein Film von Michèle Sauvain. Klingt spannend:

Vor kurzem wurde bekannt, dass ein fachlich hochgeschätzter Schulsozialarbeiter in den vergangenen 17 Jahren in verschiedenen Kantonen mehrere Knaben sexuell missbraucht haben soll. Warum konnte der Mann so lange unentdeckt sein Unwesen treiben, obwohl es immer wieder Gerüchte gab?

Sowohl etwas weiter unter im Werbetext zum Film als auch daselbst nach ca. 5 Minuten der Satz:

Mittlerweile ist der Beschuldigte B. geständig.Wie ist es möglich, dass ein Mensch über 16 Jahre lang Kinder sexuell missbraucht, ohne dass er gefasst wird? Der beschuldigte Schulsozialarbeiter T.B. sitzt seit eineinhalb Jahr in Untersuchungshaft. Vor einer Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.

Und doch besteht der Film vorwiegend in einer Darstellung dessen, was B. alles vorgeworfen wird. Natürlich mit detaillierter Darstellung von Details (Arbeitsorte, Tätigkeiten, Filmauftritte des Betroffenen, Hinweis auf die von ihm verfasste Kolumne, verfremdete Filmaufnahmen des Beschuldigten), die sicherlich all jenen, die B. kannten – jetzt kennt ihn ja niemand mehr, alle reden nur noch in der Vergangenheitsform über B., als ob er tot wäre – und auch sonst hinreichend Neugierigen eine Identifikation erlauben dürften. Alle möglichen Schulleiter und Nachbarn werden interviewt und sind natürlich erstaunt. Vertreterinnen von Opferberatungsstellen werden interviewt und sind natürlich schockiert.

Und die Polizei? Die sagt zwar nichts zum Fall, natürlich nicht, das darf sie nicht, das ist ein hängiges Verfahren, da sei die Unschuldsvermutung vor, aber Polizistinnen und Polizisten können immerhin durch Milchglastüren schreiten und sagen, wie das denn im Allgemeinen so sei mit Pädokriminellen. Auch ein Herr von der Kobik und eine Doktorandin haben viel zu erzählen über Pädokriminelle im Internet und darüber, wie schwierig die Ermittlungen gegen sie sind.

Es ist nun durchaus von Interesse und eine schwierige Frage, welche Massnahmen zur Vermeidung von Missbrauchsfällen an Kindern getroffen werden sollen und können. Die Bekämpfung der Kinderpornographie im Internet ist ein wichtiges, aber auch – man denke an die Frage der verdeckten Ermittlung – ein sehr heikles Thema.

Bloss: Ist all das jetzt nur ein Thema, weil man es am “Fall B.” aufhängen konnte? Musste sich Frau Sauvain in der Redaktionssitzung anhören, das sei jetzt “wie keine Geschichte”, wenn man keinen konkreten “Fall” habe, dann passe das nicht in die Sendereihe? Sah sie sich schon der Chance beraubt, sich als furchtlose investigative Journalistin zu zeigen, die B. bereits für einen Dokumentarfilm über Jugendliche interviewt hatte, bevor er als Kinderschänder berühmt war, quasi in der Höhle des Löwen? Hätte man mit diesem Film nicht warten können, bis der Fall tatsächlich zu einem “Kriminalfall” geworden wäre, also bis nach einer Verurteilung von B.?

Die Unschuldsvermutung wird jedenfalls zu einer Farce, wenn sie zur blossen Floskel verkommt und irgendwann in einem Halbsatz in einem Film erwähnt wird, der ansonsten der breitestmöglichen Darstellung der Tatvorwürfe gegen einen Beschuldigten gewidmet ist.

Doch in der Kriminalberichterstattung in den Medien steht der Film nicht als Lapsus dar, sondern er spiegelt die Norm wieder: Es gibt wohl kaum  einen Nachrichtensprecher in diesem Lande, der nicht schon nach der detaillierten Darstellung eines Deliktsvorwurfs mit gönnerhaftem Lächeln den Satz eingestreut hätte: “Natürlich gilt in diesem Fall die Unschuldsvermutung”. Und gedacht hätte “…natürlich war er’s, das ist doch klar, und das wissen die Leute auch, jetzt. Aber diese Juristen …”