Vorschriften

Das Wort «Vorschriften sind für Dumme», womit er alle Durchschnittsmenschen meinte, stammte von ihm und war für ihn bezeichnend.

H. M. Enzensberger, Hammerstein oder der Eigensinn,  Frankfurt 2008, 75

Jeremy Bentham, ein furchtbarer englischer Jurist, und das Panoptikum

Wer weiß schon, was 
ein 
Panoptikum ist? Man braucht nur das Stichwort in die Suchmaske eingeben, schon wird man in die Irre geführt und auf einen Engländer namens Jeremy Bentham verwiesen. Das war ein furchtbarer englischer Jurist, der sich in seiner Freizeit ein ideales Gefängnis ausgedacht hat. Ein einziger Aufseher, der im 
Dunkeln sass, sollte möglichst viele Häftlinge überwachen. Solche Anstalten sind dann tatsächlich erbaut
 worden. Bald entdeckten scharf kalkulierende Unternehmer, dass diese ominöse Erfindung auch zur kostengünstigen und effizienten Organisation einer Fabrik dienen konnte.

Hans Magnus Enzensberger, Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays, Berlin: Suhrkamp2012, 8

Bilder aus Konzentrationslagern

M. müsste lügen, wenn er behaupten wollte, dass er Mitleid mit den Opfern empfunden hätte; es ist schlimmer gewesen. Ihr Anblick habe ihn gewürgt. Dieses Gefühl erfasste den ganzen Körper, unwillkürlich und ohne Besinnung. Vor Ekel konnte er tagelang nichts mehr essen, und ganz hat ihn dieser Ekel nicht mehr verlassen.

Eine solche vormoralische Reaktion ist stärker als das vage Schuldgefühl, das man empfindet, weil man in eine Gesellschaft von Mördern hineingeboren wurde. Der Ekel ist eine asoziale Empfindung, frei von jeder nationalen oder intelligiblen Bestimmung; er schliesst den mit ein. Den er überwältigt, einfach deshalb, weil er derselben Spezies angehört.

Die Folgen dieses Schocks hielten lange an. M. konnte damals keinen Arzt mehr aufsuchen, ohne sich Gewissheit über sein Vorleben verschafft zu haben. Ebenso begegnete er jedem Richter, jedem Polizeibeamten und jedem Professor, der einer bestimmten Altersgruppe angehörte, mit einem chronischen Misstrauen. Dieser Argwohn erwies sich, wie nicht anders zu erwarten, in vielen Fällen als begründet. Je weiter er aber seine Nachforschungen trieb, je mehr Bücher er las und sich in Dokumentationen vertiefte, desto mehr drohte die Vergangenheit ihm zur Obsession zu werden. Erst nach geraumer Zeit ist ihm aufgegangen, dass er ganz ohne eigenes Zutun, auf nichts als auf glückliche Zufälle gestützt, immerzu auf die bessere, die richtige Seite geraten war. Zur Tatzeit war er einfach nicht alt genug, um in das Verbrechen verwickelt zu sein.

H. M. Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum, Berlin 2018, 160 f.

Lehrer

Die Lernerfolge solcher Pädagogen ließen viel zu wünschen übrig. Aber die sogenannte Bildung ist ja nie der Hauptzweck der Schule gewesen. Das zeigt sich schon daran, dass der Lehrkörner bis heute drei oder vier Jahre damit zubringt, den Kindern Lesen und Schreiben, Addieren und Multiplizieren beizubringen. Fertigkeiten, die sich jedes normale Kind mühelos innerhalb von sechs Wochen aneignen kann. Der lange Zwangsaufenthalt in der Schule dient vielmehr dazu, die Grundregeln der Politik einzuüben, das Erproben von Machtverhältnissen, Intrigen, wechselnden Bündnissen, Kriegslisten und Kompromissen.

In diesem Zusammenhang nimmt das Wort Klassenkampf eine ganz andere Bedeutung an. Die mit ernster Miene ausgetragenen Auseinandersetzungen der Berufspolitiker erinnern jeden Aussenstehenden, der ein gutes Gedächtnis hat, an die Jahre, die er im Kindergarten oder in der Elementarschule zubrachte.

Insofern verfehlt die Kritik an den Lehrern den Kern der Sache. Die meisten dieser überforderten und bedauernswerten Leute ahnten ja kaum etwas von der Gruppendynamik unter den ihnen Anvertrauten, also von den entscheidenden Motiven der Sozialisation. Mit der Vermittlung ihrer bescheidenen Lehrstoffe beschäftigt und in chronischer Überschätzung ihrer Pädagogik wussten sie ebensowenig wie die Eltern von den grausamen und subtilen Prozessen, die sich Tag für Tag unter ihren Augen abspielten, und diese berufsbedingte Blindheit verlieh ihnen eine Art Unschuld, die selbst den übelsten unter ihnen kaum abzusprechen
 war.

H. M. Enzensberger, EIne Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum, Berlin 2018, 124 f.

Nichts zu behüten

Der junge Mann
mit dem ich vorübergehend
die Wohnung teile –
ich sehe ihn kaum.

Nachts
kommt manchmal ein Anruf.

Diese überdrehte,
ängstliche
Stimme.

Misch Dich nicht ein,
sage ich mir.
Was auch immer geschieht:
es gibt nichts
zu behüten.

Rainer Malkowski, Was auch immer geschieht, Frankfurt 1986

Nettelbecks Prozesse

Ein phantastisches Buch mit phantastischen Berichten über Strafprozesse, und ihre Entlarvung.

In der mündlichen Urteilsbegründung reduzierte das Gericht die Tat des Eckart Mellentin auf das an ihr Feststellbare, den gemeinen Mord. Eckart Mellentin habe, um sich aus einer durchaus unangenehmen Situation zwischen zwei Frauen zu lösen, eine Frau getötet, die ihm lästig geworden sei, und ein Kind, das ihn gestört habe. Diese Tat stehe auf dem niedrigsten sittlichen Niveau. Es konnte nicht anders entscheiden. Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist.

Uwe Nettelback, Prozesse. Gerichtsbericht 1967-1969, Berlin 2015, 20.

Jedem, aber wirklich jedem sei das Buch empfohlen, nicht nur wegen der Berichte über die Kindermörder Jürgen Bartsch und Klaus Lehnert, oder über den Frankfurter Brandstifter-Prozess gegen Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll & Horst Söhnlein, die dannzumal noch niemand kannte, sondern wegen des wirklich aussergewöhnlichen Verständnisses dafür, was ein Strafprozess darstellt und was er mit den Beteiligten anstellt, und nicht zuletzt wegen der grossen Sprachkraft Nettelbecks, die ihresgleichen sucht.