Geschichten, nicht Gerechtigkeit

Thomas: Bei fast jedem fall gibt es einen, der sich mit uns einigt. Wussten Sie das nicht? Was wir brauchen, ist nicht Gerechtigkeit, für die sind wir gar nicht zuständig. Wir brauchen eine Geschichte. Wenn Ihr Mann redet, haben wir eine, die sich hören lassen kann. Und er wird reden. Die Leute tun eine Menge, um nicht ins Gefängnis zu gehen. Und zum Glück ist er nicht mehr Ihr Mann. Sonst wäre seine Aussage nicht zulässig. Das war vorschnell mit der Scheidung. Wenn man zusammen Verbrechen begeht, sollte man verheiratet sein.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 173

Wie Mörder aussehen

Judith: Gar nichts können Sie tun, mit Ihren Sonderrechten. Sie haben all Ihre Leute, Sie haben all die Geräte, und Sie können mein Telefon orten, wann immer Sie wollen, aber eigentlich sind Sie hilflos.

Thomas: Sie vertrauen also wirklich dem Rechtsstaat? Das sollten Sie vielleicht nicht. Wenn Sie recht haben mit dem, was Sie schreiben, sollten Sie das vielleicht nicht. Erst würde man mich pro forma verurteilen, weil ich meine Befugnisse überschritten habe, dann bekomme ich einen Orden und werde befördert. So läuft das, wenn man Gefährder überführt. Dann bin nämlich ich im Fernsehen, und Ihnen untersagt der Richter, Interviews zu geben. Ein Richter darf das. Ein Richter dar! Last alles.

Judith: Schauen Sie mich doch an. Sehe ich
aus wie eine, die Menschen umbringen will? Sie haben Mörder gesehen, sehe ich so aus?

Thomas: Mörder sehen nicht wie Mörder aus.

Judith: Sondern wie ganz normale Leute, ich weiß, das sagt man.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 172 f.

Verhaftet?

Thomas: Die Sache ist die. Wir haben Sie zu einem Gespräch gebeten, und Sie haben mit uns gesprochen. Wir wissen das zu schätzen. Aber sollten Sie das Gespräch ausgerechnet bei der Frage nach dem Ort des Anschlags abbrechen, so bedeutet das, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen.

Judith: Wenn ich nicht verhaftet bin, müssen Sie mich gehen lassen.

Thomas: Wenn Sie nicht verhaftet sind.

Judith: Sie haben gesagt, ich bin nicht verhaftet.

Thomas: Noch nicht.

Judith: Sie meinen, ich bin nicht verhaftet, solange ich freiwillig bleibe. Aber wenn ich darauf bestehe zu gehen…

Thomas: Dann müssen wir Sie verhaften.

Judith: Tun Sie das.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 168

Zum Schutz der Unschuldigen

Thomas: Eine Meinung ist keine Tat. Eine Meinung ist eine Meinung. Eine Tat ist eine Tat. Er nimmt eines der auf dem Tisch liegenden Blätter und liest vor. «Wir bekennen uns zu dieser Aktion, durchgeführt an den Weihnachtstagen. Wir bekennen uns zur Notwendigkeit dieser drastischen Maßnahme zur Destabilisierung des Status quo. Bekennen uns zu jedem Mittel, das in Frage stellt, was angeblich ohne Alternative ist.» Er schweigt einen Moment, schüttelt den Kopf und liest weiter. «Die Rhetorik vom Schutz Unschuldiger kommt einem System zugute, das dafür sorgt, dass es ebenso wenig Unschuldige gibt wie wahrhaft Schuldige. Es gibt keine Kombattanten mehr, sondern nur Personen unter Sachzwang. Wer Mitleid fordert, der fordert, den Kampf aufzugeben. Wer den Kampf noch fuhren will, akzeptiert, dass man ihn unmenschlich nennt.» Das ist von Ihrem Computer.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 166

Ein Baum, der umfällt

Thomas: Wenn ich Sie schon bei mir habe. Als Philosophin. Ich wollte immer schon wissen: Wenn ein Baum umfallt und keiner ist dabei, fallt er wirklich?

Judith: Wer stellt die Frage?

Thomas: verständnislos Wer stellt die Frage?

Judith: Ja, wer stellt die Frage?

Thomas: Na ich.

Judith: Sehen Sie?

Thomas: Nein.

Judith: Denken Sie nach!

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 162

Menschen, die bereit sind zu sterben

Thomas: Wissen Sie, womit ich jeden Tag zu tun habe, Frau Professor? Die Dschihadisten, auf die ich ein Auge haben muss, all die verklemmten Kerle, die keine Freundin finden und dann im Netz verkünden, dass sie für Allah kämpfen und man kann nur hoffen, dass sie sich irgendwo in der Wüste erschießen lassen, bevor sie mit dem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt fahren oder mit Maschinenpistolen Journalisten abschlachten. Die Wahrheit ist, dass wir vollkommen machtlos sind gegen Menschen, die bereit sind zu sterben. Wer sterben will ist unbesiegbar, er ist nicht aufzuhalten. Nur darf man das der Öffentlichkeit nicht sagen, die ist schon beunruhigt genug. Sind das Ihre Unterdrückten der Erde, die Mörder von Paris? Jemand wie Sie ist wirklich das Letzte, was ich brauche. Die ganz alten Theorien. Die Wut von vorgestern, staubige Gespenster aus dem Geschichtsseminar. Als wir auf Sie gestoßen sind, mussten wir lachen. «Gibt’s denn so was heute auch noch?», hat mein Kollege gefragt.

Daniel Kehlmann: Heilige Abend, in: 4 Stücke, Hamburg 2019, 160