Der Sieg

Er hatte niemand auf der Welt, und sein Leben nur um seiner selbst Willen zu leben – dazu war es ihm nicht wertvoll genug. Auch sein Geld war zu Ende.

Es langte, da er keinerlei Schulden hinterliess, gerade noch zu einem anständigen Begräbnis.

Das erhielt er, nachdem man ihn, einige Tage später, an einer einsamen Stelle im Walde, mit dem Schuss in der Schläfe und der Waffe in der Hand, gefunden hatte.

John Henry Mackay: Staatsanwalt Sierlin, Die  Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 183

Jeder Angeklagte ist schuldig

Das hat er von seiner verfluchten Streberei. «Jeder Angeklagte ist schuldig, auch wenn er es nicht ist.» Eine schöne Maxime!

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928,  115

Felsenfeste Beweise der Unschuld

Dieser Mensch konnte sich doch nicht etwa in Wirklichkeit einbilden, dass er schuld an seiner Verurteilung gewesen war? – Die Richter hatten ihn auf den Spruch der Geschworenen hin verurteilt – er doch nicht.

[…]

Ja, warum verfolgte er gerade ihn? – Was hatte er ihm getan? – Er hatte doch nur seine Pflicht erfüllt und sogar, bei der Ungeklärtheit des Falles, eine besonders niedrige Strafe beantragt. Dass er einfach das Opfer eines Justizirrtums (wie so manche andere) geworden war, das sah so ein Mensch, dem das erlittene Unrecht die Sinne verwirrt hatte, natürlich nicht ein.

[…]

Hatte er, dieser Mensch, wirklich annehmen könne, er solle seinen Freispruch beantragen? – Das tat er nur, wenn es absolut nicht anders ging, wenn felsenfeste und unumstössliche Beweise für die Unschuld eines Angeklagten vorlagen, und wenn er selbst an diese Unschuld glaubte.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 95 f.

Nichts fürchten

Er war der Staatsanwalt Sierlin, der nichts auf der Welt fürchtet als Gott allein; der nicht zu fürchten hatte, weil sein Leben tadellos vor aller Augen offen dalag; und der sein Auge vor keinem anderen Menschen niederschlug.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 52

Als Gast

Er war während des Aufenthalts bei seinen Verwandten kein angenehmer Gast. Liebenswürdig war er ja nie gewesen, aber diese schlechte Laune, diese Unruhe und Kurzangebundenheit überstiegen denn doch jedes Mass, und man war froh, ihn schon nach sechs Tagen loszuwerden, da er selbst äusserte, seinen Besuch abkürzen zu müssen.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 41

Die Wahl der Eltern

In seinen Kreisen war er wenig beliebt. Andere betrat er nicht. In seinem Beruf gefürchtet, hatte er eigentlich keine Freunde. Man nannte ihn, nicht ohne Unrecht, einen blutigen Streber, und er wusste, dass man ihn so nannte. Aber die hatten gut reden –sie waren in der Wahl ihrer Eltern vorsichtiger gewesen.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 23

Staatsanwalt Sierlin

Obwohl nur mässig begabt, nahm er doch seinen Weg: durch nur halb genossene Studien- und arbeitsreiche Referendar- und Assessoren-Jahre, durch alle – mehr oder weniger genügend – bestandenen Examina, bis er sich zu seiner jetzigen Stellung als zweiter Staatsanwalt an einem der Landgerichte der Hauptstadt emporgeschwungen.

John Henry Mackay, Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin 1928, 21

Naked Athena of Portland

Das genau ist, was Hans Peter Duerr in seinem «Mythos vom Zivilisationsprozess» erzählt, dass die Nacktheit eine Waffe sein kann. Die Polizisten ziehen sich ängstlich vor der nackten Frau zurück.

 

A naked protester tries to deescalate the scene after federal officers cleared the streets with tear gas and other crowd control munitions as protests continue against police brutality outside the federal courthouse and Justice Center in downtown Portland, Ore., on July 18, 2020. (Photo by Alex Milan Tracy/Sipa USA)/30313829/Alex Milan Tracy/2007181506

Versprechen, ach, Versprechen

Queste promesse che gli uomini, paurosi l’uno dell’altro, si scambiano in una carta più o meno solenne sono come le promesse di eterna fedeltà nell’amore: valgono finché valgono, rebus sic stantibus, finché la natura, la passione, la follia non prendono il sopravvento.

 

Diese Versprechen, die sich Menschen, aus Angst voreinander, mehr oder weniger feierlich auf Papier geben, sind wie die Versprechen der ewigen Treue in der Liebe: Sie sind gültig, solange sie gültig sind, rebus sic stantibus, bis die Natur, die Leidenschaft oder der Wahnsinn überhand nehmen.

Salvatore Satta, Il mistero del processo, Milano: Adelphi 2007

Rechtschreibreform: Orthographie

Wusstest Du, dass Orthographie nach Duden «Orthografie» geschrieben wird. Diese Schreibweise wird «empfohlen», Orthographie hingegen ist als «alternative Schreibung» bezeichnet.

Was müsste man mehr wissen, über die heutige Welt, wo Verwaltungsmenschen (ich sage nicht Lehrer, denn es sind nicht die Lehrer, sondern die Lehr-Verwalter) die Sprache formen wollen und eine Rechtschreibungsreform durchsetzen, die den Ungebildeten und Dummen entgegenkommen will, indem sie sich auf die Logik beruft und «Stengel» neu «Stängel» schreiben will, weil das Wort ja von «Stange» herkomme.

Achte Dich einmal: Alle Worte, die von Ungebildeten verwendet werden, will der Duden nicht mehr mit PH schreiben, sondern mit F, also z.B. Delfin oder Fotografie.«Philosophie» hingegen wird von dieser Gruppe offenbar selten verwendet und darf daher mit PH geschrieben werden und es gibt nicht einmal eine «alternative Schreibung».

Und «Orthografie»? Offenbar sind die Ungebildeten gewohnt, «grafie» zu schreiben, doch will man ihnen die Schwierigkeit des TH in «Ortho» nicht ersparen. Wie einsichtig. Die Hälfte bleibt griechisch, die andere wird deutsch-phonetisch. Da lobe ich mir doch das Italienische, das alles phonetisch schreibt.

Erbarmen

«Pity, always pity,» the Doctor said. «You ought to rewrite the Bible, ‘Pity your neighbour as you pity yourself.’ Women have such an exaggerated sense of pity. My daughter took after her mother in that. Perhaps she married you out of pity, Jones. I’m sure Mrs Montgomery would marry you if you asked her. But pity wears off quickly, when the pitied one is out of sight.»

«What emotion doesn’t wear off?» Deane asked.

Graham Greene, Doctor Fischer of Geneva and the bomb party, London 1980, 114 f.

Suit everyone

«Impossible. The presents have been chosen to suit everyone equally.»

«What is there in the world which can possibly suit everyone?»

Graham Greene, Doctor Fischer of Geneva and the bomb party, London 1980, 113

What do you want

«What do you want, Doctor Fischer?»

«You aren’t intelligent enough to understand if I told you.»

Graham Greene, Doctor Fischer of Geneva and the bomb party, London 1980, 107

Der Sinn des Lebens

Fädeln wir viele Kirschenpaprika auf, entsteht ein Paprikakranz.

Fädeln wir sie hingegen nicht auf, entsteht kein Kranz aus ihnen.

Dabei sind die Paprika ebenso viele, ebenso rot, eben stark. Und doch sind die kein Kranz.

Machte es nur der Faden? Der Faden macht es nicht. Dieser Faden ist, wie wir wissen, nebensächlich, drittrangig.

Was ist es dann?

Wer darüber nachdenkt und darauf achtet, dass seine Gedanken nicht durcheinanderschwirren, sondern die richtige Richtung einschlagen, kann grossen Wahrheiten auf die Spur kommen.

Istvan Örkeny, Der Sinn des Lebens, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auf., 135.

Weltende

Wie bekannt, wird übermorgen, am Dienstag, dem ersten Februar, um 17 Uhr 45, die Welt untergehen. Unmittelbar danach findet das Jüngste Gericht statt.

Die zuständige Abteilung beim Rat der Hauptstadt ersucht die Einwohnerschaft, Panik zu vermeiden. Andererseits ist jede Ungeduld überflüssig, da jeder ohne Ausnahme an die Reihe kommt.

Verkehrseinschränkungen grösseren Umfangs werden nicht erforderlich sein, doch wird der Burgtunnel wegen eventueller Einsturzgefahr um 15 Uhr gesperrt. Von dieser Zeit an werden die Autobusse 4, 5 und 56 nicht über die Kettenbrücke, sondern über die Elisabeth-Brücke fahren.

Züge, Schiffe und Autobusse verkehren fahrplanmässig; vom Vigadó-Platz aus geht sogar ein letzter Ausflugsdampfer; er wird bei genügender Beteiligung als beflaggter Katafalk in die malerischen Gebiete des Eisernen Tores und des Schwarzen Meeres hinunterfahren.

Allen jenen, die um eine Verlängerung ihres Lebens ansuchen wollen, geben wir bereits jetzt bekannt, dass ihr Verlangen nicht erfüllt werden kann. Auch werdende Mütter und Neugeborene bilden keine Ausnahme; einige beklagen sich allerdings mit Recht darüber, da sie gerade übermorgen um 17 Uhr 45 auf die Welt kommen sollen und infolgedessen ein enorm kurzes Leben haben werden.

Dagegen haben alle jene ein besonderes Glück, die zu diesem Zeitpunkt sowieso verscheiden würden. Sie lachen sich jetzt eins ins Fäustchen.

Istvan Örkeny, Hinweise und Verkehrseinschränkungen in Verbindung mit den Ereignissegen am 1. Februar, in: Gedanken im Keller, Berlin: Eulenspiegel, 2. Auf., 126 f.